Die Seilschaft
fertig.» Er sammelte sich. «Das ist mir in meiner dreißigjährigen Dienstzeit noch nicht passiert. Meine eigenen Kommissare hintergehen mich.»
«Aber …»
«Nichts aber. Ich bin sehr von Ihnen enttäuscht, Kilian. Gerade von Ihnen hätte ich mehr Rückgrat erwartet.»
«Was hätte ich denn tun sollen?»
«Na, was wohl? Zu mir kommen. Das ist doch wohl klar. Ihr Freund Heinlein ist auch mein Kollege. Glauben Sie denn, dass ich so etwas zum ersten Mal sehe? Aus der Kriminalinspektion Schweinfurt sitzen zwei Kollegen in der Nervenheilanstalt, in Aschaffenburg hat sich ein Kollege sogar das Leben genommen. Bis heute war ich mir sicher, dass so etwas in meiner Inspektion nicht passiert, und wenn, erhalte ich früh genug Bescheid. Was ist da schiefgelaufen?»
Worauf wollte Klein hinaus?
«Ich verstehe nicht, was Sie …»
«Warum sind Sie nicht früher zu mir gekommen?»
Ja, warum? Kilian wusste keine rechte Antwort darauf. Allen war klar, dass Klein Heinlein wie eine faule Tomate fallenlassen würde, wenn er von seiner Erkrankung erfuhr. Wer wollte schon einen selbstmordgefährdeten Kollegen in den eigenen Reihen wissen? Schließlich trug er jederzeit eine scharfgeladene Waffe mit sich. Die Sache hätte auch eine andere, schreckliche Wendung nehmen können.
«Ich weiß es nicht», antwortete Kilian, «ich dachte, Sie würden Heinlein aus dem Dienst entfernen.»
Klein schaute ihn fassungslos an.
«Sind Sie nun völlig verrückt geworden? Kollege Heinlein ist ein langgedienter Kriminalbeamter mit einer beeindruckenden Aufklärungsrate. So einen Mann werde ich doch nicht fallenlassen. Er ist erschöpft und durcheinander, aber gerade jetzt braucht er unsere Hilfe. Kilian, das muss Ihnen doch klar gewesen sein.»
Das war es nicht, ansonsten hätte er ja diese Scharade nicht spielen müssen. Aber das konnte er ihm nicht sagen.
«Ich war mir nicht sicher», antwortete er.
«Das können Sie aber. Wir sind eine Mannschaft, vom Torwart bis zum Stürmer. Da steht der eine für den anderen ein. Teamgeist. Verstehen Sie?»
«Was schlagen Sie nun vor?»
«Kollege Heinlein braucht alle Unterstützung, die er bekommen kann. Laut seinem Arzt bedeutet das für die nächsten Wochen absolute Ruhe. Danach sehen wir weiter.»
Hervorragender Vorschlag, dachte Kilian. So weit war er schließlich auch schon.
«Lassen wir ihn also wieder zu Kräften kommen», fuhr Klein fort und nahm Kilian am Arm.
Er führte ihn zum Ausgang. Sie waren noch nicht um die erste Ecke gebogen, als er wieder dienstlich wurde.
«Frau Anschütz erzählte mir, dass Sie die letzte Nacht mit dem Kollegen Schneider im Einsatz waren?»
«Ja, es gab einen Toten.»
«Ich habe davon gehört. München hat mich in Kenntnis gesetzt.»
Der letzte Satz war als Schelte zu verstehen. Sie beeindruckte Kilian jedoch nicht.
«Der Landesgruppenchef Reiner Schachtner hat sich in den Tod gestürzt. Ich konnte ihn nicht davon abhalten.»
«Machen Sie sich keine Vorwürfe», beruhigte ihn Klein.
Das tat er nicht. Trotzdem wäre er sehr gern erfolgreicher gewesen.
«Anlass der Selbsttötung war eine von Ute Mayer zusammengestellte Akte über Schachtners Vergehen in seiner Zeit als …»
«Genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen», unterbrach ihn Klein.
«Über Schachtners Vergangenheit?»
«Nein, über diese mysteriöse Akte.»
«Ist das nicht dasselbe?»
«Nein, ist es nicht. Es sind sogar zwei völlig verschiedene Angelegenheiten, die keinesfalls miteinander vermischt werden dürfen.»
Sie traten aus der Klinik auf die Straße. Klein schaute sich nach unliebsamen Mithörern um, bevor er weitersprach.
«Wissen Sie, Kollege Kilian, es gibt da unterschiedliche Strömungen in der Partei und letztlich auch in der Verwaltung. Es ist zurzeit schwer, sich auf die eine oder andere zu verlassen, zumal sie selbst nicht wissen, wohin die Reise geht.»
Kilian hätte es wissen müssen.
München hat mich in Kenntnis gesetzt.
Versuchte nun jeder so kurz vor der Wahl, sich keine Feinde mehr zu machen? Schließlich wusste man nicht, wer für die nächste Legislaturperiode die Zügel in der Hand hielt. Ein leises, unauffälliges Traben war die beste Wahl, wenn nicht gleich stilles Verharren.
«Worauf wollen Sie hinaus?», fragte Kilian.
«Diese Akte über Reiner Schachtner», fuhr Klein fort, «befindet sie sich noch in Ihrem Besitz?»
«Ich wollte sie nach meinem Besuch in der Klinik asservieren lassen.»
«Gut. Ich denke, es wäre sinnvoll, wenn ich
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