Die Seilschaft
treffe ich Hofmeister vom Haushaltsausschuss?»
Hilde blätterte einen Tag weiter. «Um neun Uhr dreißig, und vergiss nicht: Seine Tochter hat das Abi im dritten Anlauf nun doch noch geschafft. Er ist stolz wie Oskar.»
«Stimmt», antwortete Ute Mayer ärgerlich, «das habe ich ganz vergessen. Was schlägst du vor?»
«Ich habe ein wenig rumtelefoniert und einen Platz im Austauschprogramm der Universität von Florida ergattert. Die Kleine soll ganz wild auf den Spring Break sein, oder wie sie dieses Saufgelage bezeichnen. Ich denke, sie wird dich dafür für immer ins Herz schließen. Nicht zu vergessen der Papa. Damit hat er seinen missratenen Sprössling endlich aus der Schusslinie gebracht.»
Ute Mayer seufzte erleichtert. «Perfekt. Was würde ich nur ohne dich machen?»
Hilde blickte auf und lächelte. «Gewöhn dich schon mal dran. Bald wirst du allein beweisen müssen, was für ein Kerl in dir steckt.»
«Der Himmel bewahre mich davor.»
Sie nahm den Aktenkoffer in die Hand. «Dann bis übermorgen. Wenn was ist …»
«Ich weiß, wo und wie ich dich erreichen kann. Und jetzt los. Das Taxi wartet.»
Ute Mayer gut präpariert auf die Reise zu schicken, zählte heute zum letzten Aufgabenpunkt. Dann war ihr Tagwerk vollbracht. Hilde würde eine Stunde früher Schluss machen und nach dem Grab schauen, ob alles in Ordnung war.
Sie gab den Pflanzen Wasser, schaltete den Computer aus und ließ das ungeliebte Handy in die Handtasche gleiten. Jeder musste heutzutage jederzeit erreichbar sein. Vernetzt, nannten sie es. So ein Unsinn. Als wäre die Welt deswegen eine andere.
Der Bus ließ nicht lange auf sich warten und setzte sie mit einer Handvoll Grauköpfe am Hauptfriedhof ab. Eine weiße Lilie mit etwas Zierwerk war im nahen Blumenladen schnell erstanden.
Dada hatte weiße Lilien geliebt. Einmal im Monat wünschte er sich eine frische Lilie auf sein Grab. Das war seine einzige Bitte in der Stunde des Todes gewesen. Hildes Mutter war der Bitte bis zu ihrem Tod gefolgt. Seit dreiundzwanzig Jahren war nun sie die Blumenbotin und Grabpflegerin, und mit ihr würde das Ritual sterben, sofern sie nicht eine würdige Nachfolgerin fand.
Das Grab war in gutem Zustand. Hilde musste außer ein paar verdorrten Blumen nichts richten. Sie wechselte das Wasser, steckte die Lilie hinein und gedachte für ein paar Minuten der Zeit, die sie mit Dada hatte verbringen dürfen.
Im Frühjahr 1945 war sie mit ihren Eltern ins bombenzerstörte Würzburg gekommen. Nach ihrer überstürzten Flucht aus dem schlesischen Hermsdorf, das die Polen nach der Vertreibung der verhassten Deutschen wieder in Sobięcin umbenannt hatten, war der Traum von einer guten Zukunft in einer sicheren Heimat endgültig vorbei.
Mittellos und ausgehungert saßen sie wie alle Würzburger in den Trümmern eines wahnsinnigen Kriegs fest.
Die Flucht hatte viel Kraft gekostet. Hildes Vater Hans bot sich jedem an, der für eine Schüssel Milch und einen Ranken Brot zwei kräftige Hände gebrauchen konnte. Und die besaß er zweifellos. Er hatte sich in den weitverzweigten Stollen des Steinkohlebaus in Hermsdorf bewiesen, wo man richtig anpacken musste. Gegen den feinen Staub der Schwarzkohle war er jedoch machtlos. Er sollte ihn bald das Leben kosten.
So mussten sich Hilde und ihre Mutter allein durchschlagen. Sie wusch, kochte und half bei der Ernte, während Hilde ihr zur Hand ging. Eine Dreijährige konnte damals erstaunlich viel und hart arbeiten, wenn der Magen leer und die Mutter verzweifelt war.
Das sollte sich bessern, als sie Dada kennenlernten. Er gab der Mutter Arbeit und Hilde das Gefühl, endlich ein Zuhause zu haben. Ihre Probleme beim Sprechen ließen dank seiner Hilfe bald nach, und Hildes Lippen formten schließlich ein Dada. Das P von Papa musste sie noch üben, aber er blieb auch später ihr Dada.
Unvorstellbar, wenn Hilde heute daran dachte. Was wäre ohne seine Hilfe wohl aus ihr und ihrer Mutter geworden?
Das Handy in ihrer Tasche surrte. Widerwillig nahm sie das Gespräch entgegen. Hilde hörte aufmerksam zu, was ihr der Kontaktmann mitzuteilen hatte.
Sie hatten eine Leiche gefunden. Im Wald, in einer versteckten Hütte.
5
Das Läuten des Telefons riss Kilian aus dem Schlaf.
«Der Schorsch», schluchzte Claudia, «er sitzt auf der Terrasse, und ich weiß nicht, was mit ihm los ist.»
Noch benommen, versuchte sich Kilian einen Reim darauf zu machen. «Ja, und?»
«Er hat eine Waffe in der Hand.»
Zehn Minuten später war
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