Die Seilschaft
Zutritt. Doch die Krankenschwester verweigerte es ihr.
«Ich habe ihm etwas zur Beruhigung gegeben», teilte ihnen der Arzt mit. «Er wird bis morgen schlafen.»
«Und dann?»
«Werden wir versuchen herausfinden, wieso es Ihrem Freund so schlecht geht.»
«Können wir die Angelegenheit so diskret wie möglich behandeln?»
«Was meinen Sie damit?»
«Er ist Kripobeamter. Wenn herauskommt, dass …»
«Er ist nicht der einzige Polizist, den wir hier behandeln», unterbrach der Arzt.
Nicht der einzige Polizist.
Kilian gab sich vorerst damit zufrieden.
Er blieb für die nächsten Stunden mit Claudia an Heinleins Seite.
Nicht der einzige Polizist.
Der Satz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Was mussten die anderen Kollegen durchgemacht haben, um hier zu landen?
Und vor allem: Wie konnten sie es verhindern, dass ihr Aufenthalt in dieser Endstation der Ausgebrannten und Verzweifelten ihre Karriere beendete? Oder hatte es genau dazu geführt?
Kilian waren die blutigen Ausraster bekannt, die sich in anderen Polizeistationen zugetragen hatten. So weit würde er es nicht kommen lassen.
Er musste sich etwas einfallen lassen. Unbedingt.
Dann schlief er auf dem Stuhl ein.
6
«Den Symptomen nach zu urteilen, handelt es sich um eine Angststörung», sagte der Arzt.
Er stand mit Kilian auf dem Gang des Krankenhauses.
«Angststörung ist sehr allgemein», sagte Kilian. «Was heißt das genau?»
«Für mich stellt sich sein Krankenbild sehr diffus dar. Was sich dahinter verbirgt, werden wir in den nächsten Tagen, wahrscheinlich Wochen herausfinden. Zuvor müssen wir zahlreiche Untersuchungen durchführen, damit wir eine körperliche Ursache ausschließen können. Ruhe und Entspannung sind jetzt das Wichtigste für ihn. Er muss Abstand gewinnen.»
«Er gibt sich die Schuld für einen Einsatz, bei dem ich verletzt worden bin.»
«Diese Schuldvorwürfe sind sicherlich nur die Spitze des Eisbergs. Darunter liegt meist mehr verborgen. Und das müssen wir finden. Bis dahin bleibt er auf jeden Fall arbeitsunfähig.» Er schaute auf die Uhr. «Wenn Sie mich jetzt entschuldigen.»
Kilian bedankte sich und überlegte, was nun zu tun war. Eine vorgeschobene Erkältung würde wohl jetzt nicht mehr ausreichen, um die Kollegen und vor allem Klein, seinen Chef, über Heinleins eigentliche Erkrankung hinwegzutäuschen. Nun galt es zu improvisieren.
Die erste Person, die er in die Schorsch-Rettungstruppe aufnehmen wollte, war Sabine Anschütz – Kilians und Heinleins Sekretärin. Sie würde ihnen den Rücken in der Inspektion freihalten müssen.
Er wählte ihre Nummer.
«Kilian hier.»
Eine aufgebrachte Sabine schnitt ihm das Wort ab.
«Wo steckt der Schorsch? Ich kann ihn nirgends erreichen, und der Chef sitzt mir im Nacken.»
«Beruhige dich. Was ist los?»
«Wir haben das Skelett aus der Waldhütte identifiziert.»
Kilian wunderte sich. «Das ging aber flott. Um wen handelt es sich?»
«Um eine gewisse Petra Bauer. Sie ist seit zwei Wochen als vermisst gemeldet.»
Noch immer wollte sich Kilian die Brisanz der Identifizierung nicht erschließen. «Warum plötzlich dieser ganze Wirbel?»
«Sie war dem Alten gut bekannt.»
Aus dieser Richtung wehte also der Wind.
Kilian beschloss, sich sofort in Bewegung zu setzen, um jede weitere Aufregung um Heinleins Abwesenheit abzufangen.
«Ich bin in fünf Minuten da, und such nicht weiter nach dem Schorsch. Ich erzähle dir alles. Bis dahin ist er auf einem auswärtigen Termin und bleibt auf dem Handy nicht erreichbar.»
«Wieso denn das?»
«Vertrau mir. Bis gleich.»
Kilian klickte das Gespräch weg. Bevor er sich auf den Weg machte, schaute er bei Heinlein vorbei. Claudia und die Kinder, Vera und Thomas, saßen mit sorgenvollem Gesicht an seinem Bett.
«Ich will nicht lange stören», sagte er, «aber ich muss los.»
Heinlein ahnte, warum. «Hat Sabine angerufen?»
Kilian spielte es herunter. «Nichts Wichtiges. Papierkram, sonst nichts.»
Er hatte schon besser gelogen, aber für den Moment musste es reichen. «Wir sehen uns später.»
Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum. Für Erklärungen war später noch Zeit.
Wer jedoch eine ausgiebige Aufklärung erwartete, war Sabine. Nachdem Kilian ihr den Vorfall von vergangener Nacht in groben Zügen berichtet hatte – den Teil mit der Waffe unterschlug er –, zog Sabine sorgenvoll die Stirn kraus.
«Meine Güte», sagte sie, «ich hatte ja keine Ahnung. Wieso hat er nicht früher etwas
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