Die Sekte der Engel: Roman (German Edition)
Gelegenheit, zu stehlen, was es zu stehlen gab, wollten sie sich nicht entgehen lassen.
Der Bürgermeister, der eigentlich über sechs kommunale Garden hätte verfügen können, hatte an diesem Morgen keinen einzigen von ihnen gesehen, sicher waren sie allesamt getürmt. Und was konnten die zehn Carabinieri der Polizeistation schon ausrichten? Um halb neun telefonierte Maresciallo Sciabarrà mit der etwa zwanzig Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Camporeale, um Verstärkung anzufordern.
Um halb eins erschien die Verstärkung in Gestalt einer berittenen Eskadron Carabinieri unter dem Kommando von Capitano Montagnet Eugenio, der den Oberbefehl über die Operationen übernahm und das Kriegsrecht ausrief.
Um zwei Uhr nachmittags wurde ein halb verblödeter armer Teufel, der von Almosen lebte und von dem keiner mehr wusste, wie er wirklich hieß, weil alle ihn nur als «’u cani» kannten, mit einem Kilo Kartoffeln erwischt, deren Herkunft er nicht erklären konnte, und sofort «dem Standgericht übergeben». Der Exekution wohnte niemand bei. Zwölf Carabinieri legten vor der Mauer des alten Klosters auf ihn an. ’U cani, der Hund, starb lachend, bis zum letzten Moment überzeugt, es handele sich um einen Scherz wie die vielen anderen, die die Einwohner zum Vergnügen mit ihm trieben.
Um vier Uhr nachmittags herrschte Grabesstille in Palizzolo.
Um halb fünf hatte Capitano Montagnet eine gute Idee: Er würde seine Männer aufs Land schicken, um den geflohenen Einwohnern zu erklären, dass es nicht die geringste Gefahr einer Cholera gab und sie daher unbesorgt in die Stadt zurückkehren konnten.
«Ich glaube nicht, dass Ihre Soldaten die Leute überzeugen können», sagte der Bürgermeister.
«Warum nicht?», fragte Montagnet.
«Weil sie Carabinieri sind», antwortete der Bürgermeister.
«Wollen wir wetten?»
Der Capitano wandte sich an einen Tenente, der mit seiner schlaksigen, leicht gebeugten Gestalt an eine Straßenlaterne erinnerte. Der Mann, der Villasevaglios hieß, wich ihm nie von der Seite.
«Sie übernehmen das Kommando. Und sorgen Sie dafür, dass ich meine Wette nicht verliere.»
«Zu Befehl», antwortete der Tenente in Habachtstellung und verließ den Raum.
Der Capitano drehte sich zum Bürgermeister um, während er sich eine Zigarre anzündete.
«Man hat mir berichtet, dass es heute Morgen einen versuchten Überfall auf das Haus eines Anwalts gab, dessen Namen ich vergessen habe …»
«Teresi.»
«Ja, so hieß er. Offenbar hat dieser Anwalt zusammen mit einem Verwandten auf die Angreifer geschossen. Stimmt das?»
«Tja, in gewisser Weise …»
«Stimmt das oder nicht, Bürgermeister?»
«Es stimmt. Aber hören Sie, dieser Anwalt …»
«Trifft es zu, dass ein Priester, der ein großes Kreuz schwang, an der Spitze der Angreifer stand?»
«So wurde mir berichtet, ja. Aber Sie müssen wissen, dass dieser Anwalt seit längerem …»
«Wollen Sie so freundlich sein, mir den Namen dieses Priesters zu nennen?»
Wie hätte er ihm irgendeine Ausflucht auftischen können? Konnte er, der Bürgermeister, behaupten, er kenne den Namen nicht? Dieser Capitano war nach außen freundlich und liebenswürdig, aber mit seinen eisernen Prinzipien ging er über Leichen. Wenn er nicht antwortete, ließ dieser Carabiniere womöglich auch ihn «dem Standgericht übergeben», wie ’u cani, diesen armen Pechvogel. Der Bürgermeister seufzte tief.
«Don Eriberto Raccuglia, Pfarrer der Mutterkirche.»
«Hören Sie, ich möchte so weit wie möglich vermeiden, dass es böses Gerede, Verdächtigungen und dergleichen gibt … Können Sie mir diesen Priester für morgen früh um neun hier ins Rathaus bestellen?»
«Ich?! Warum denn ich?»
«Verstehen Sie denn nicht? Wer weiß, was passiert, wenn ich ihn auf die Station der Carabinieri bringen lasse.»
Der Capitano hatte recht.
«Einverstanden.»
«Danke. Und jetzt sagen Sie mir bitte, wer das Gerücht von der Cholera in Umlauf gebracht hat und warum.»
Dem Bürgermeister Calandro brach der kalte Schweiß aus. Wenn jetzt auch noch wichtige Persönlichkeiten des Städtchens in die Sache hineingezogen wurden, konnte das sehr ernste Folgen haben.
«Es sieht so aus … als wäre das Ganze ein großer Irrtum gewesen.»
«Ach, wirklich? Dann war die Störung der öffentlichen Ordnung also Ihrer Meinung nach keine Absicht?»
«Ich würde sagen nein.»
«Gut, das wäre der zweite Teil.»
Der Bürgermeister verstand nicht.
«Entschuldigung, Capitano, der
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