Die Sekte der Engel: Roman (German Edition)
Augen und sah Capitano Montagnet, der ihn beobachtete wie die Katze eine Maus.
Dottor Palumbo kam verspätet zur morgendlichen Visite im Haus von Avvocato Teresi. Er stellte fest, dass der Gesundheitszustand des Jungen große Fortschritte gemacht hatte. In drei Tagen werde er ihm erlauben, das Bett zu verlassen und ein bisschen im Haus herumzulaufen.
«Meine Mutter wurde vom Neffen des Avvocato benachrichtigt und kommt mich morgen nach dem Mittagessen besuchen. Sie möchte mich gerne nach Salsetto zurückbringen.»
«Daran ist vorerst nicht zu denken, die Fahrt mit der Kutsche kannst du dir noch nicht erlauben.»
Nach der Untersuchung bot der Anwalt ihm wie üblich einen Kaffee an.
«Entschuldige meine Verspätung, ich wurde ins Haus von Giallonardo gerufen.»
«Der Notar ist krank?»
«Nein, er ist wohlauf und seine Frau auch.»
«Um wen ging es dann? Kinder haben sie ja keine.»
«Um das Hausmädchen. Eine hübsche Kleine, achtundzwanzig ist sie und heißt Rosalia Pampina, wie ich von der Signora erfuhr. Denn das Mädchen spricht nicht mehr.»
«Was soll das heißen, sie spricht nicht mehr?»
«Die Kleine war wegen der Cholera weggelaufen. Sie hat den Tag und die Nacht draußen verbracht und ist am Nachmittag des nächsten Tages zurückgekommen. Seitdem spricht sie nicht, isst nicht und trinkt nicht. Als sie zurückkehrte, hat sie ihre Padrona wenigstens noch gefragt, ob sie in die Kirche gehen dürfe, aber als sie ein paar Stunden später zurückkam, sprach sie nicht mehr.»
«Wie erklärst du dir das?»
«Leider habe ich sie untersucht. Man hat sie geschändet.»
«Vergewaltigt?»
«Auf jede mögliche und vorstellbare Weise. Ich glaube, sie hat in jener Nacht, die sie im Freien verbrachte, eine böse Begegnung gehabt. Wenn es ihr bis heute Abend nicht bessergeht, lasse ich sie ins Krankenhaus von Camporeale bringen.»
«Hat die Signora dir gesagt, in welche Kirche sie gegangen ist?»
«In die, wo auch ihre Herrschaft hingeht, San Cono.»
Dottor Prestis Aufenthalt in Palizzolo als stellvertretender Amtsarzt war nicht von so langer Dauer, wie Bellanca vorhergesagt hatte.
Er währte nur bis um elf Uhr desselben Tages, weil sich um halb elf die Tür der Zelle in der Polizeistation öffnete und der Capitano zu Bellanca sagte:
«Sie sind frei. Ich habe die Anklagen gegen Sie fallengelassen. Guten Tag.»
Er drehte sich um und ging hinaus. Der Dottore war so verblüfft, dass er nicht einmal den Gruß erwiderte.
Etwa um dieselbe Zeit wurde Tenente Villasevaglios im Haus von Don Anselmo Buttafava vorstellig.
«Ich habe das Vergnügen, Ihnen mitzuteilen, dass Capitano Montagnet die Anklage gegen Sie zurückgezogen hat.»
Don Anselmo, der beim Anblick des Tenente sofort gedacht hatte, er sei gekommen, um ihn zu verhaften, weinte fast vor Rührung.
Um halb zwölf rief Seine Exzellenz Eustachio Benincasa, Präfekt von Camporeale, den Bürgermeister Calandro an. Dieser fühlte sich verpflichtet, ihm zuvorzukommen:
«Eccellenza, ich danke Euch für Euer schnelles Eingreifen, durch das …»
«Nun lassen Sie mich doch erst sprechen, Himmelherrgott!»
«Verzeihung, Eccellenza.»
«Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich außer ihrem gestrigen Anruf soeben eine von gut hundert Bürgern des Städtchens unterzeichnete Petition erhalten habe, in der die Freilassung von Dottor Buzzanca …»
«Bellanca, Eccellenza.»
«Ja, natürlich, Bellanca. Ich wende mich an Sie, damit Sie den Unterzeichnern mitteilen, dass meine Antwort lautet, sie müssten sich noch ein paar Tage in Geduld fassen. Was auch immer er tut, Capitano Montagnet handelt in vollkommener Übereinstimmung mit dem Gesetz, wenn er die Ordnung in Palizzolo wiederherstellt. Und Sie als Bürgermeister müssen bedingungslos mit ihm zusammenarbeiten. Haben Sie mich verstanden?»
«Absolut, Eccellenza.»
«Was wollten Sie mir sagen?»
«Nichts, Eccellenza.»
Dann war es also nicht der Präfekt, der Montagnet befohlen hatte, den Rückzug anzutreten. Andererseits war der Capitano kein Mensch, der einmal getroffene Entscheidungen bereute. Da fiel dem Bürgermeister ein, dass Commendator Padalino gesagt hatte, er würde den Abgeordneten Barrafranca anrufen. Möglich, dass der Abgeordnete sofort eingeschritten war. Trotzdem bereitete ihm der überraschende Schachzug des Capitano Unbehagen. Er verließ sein Büro und sagte dem Amtsdiener, er werde gleich wieder zurückkommen. An schönen Vormittagen saß der Commendatore gerne auf dem Balkon seines
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