Die Seltsamen (German Edition)
festzustellen ist, da sich niemand gemeldet hat, um Anspruch auf die Leichen zu erheben. Wie dem auch sei, die Opfer wurden alle in London gefunden. In der Themse.«
Ein kleiner, ernst dreinblickender Gentleman in der ersten Reihe rümpfte die Nase und hob wütend die Hand.
Der Vorsitzende musterte ihn missmutig und erteilte ihm mit einem Kopfnicken die Erlaubnis zu sprechen.
»Das sind doch Bagatelldelikte, Euer Gnaden. Ich bin sicher, dass Scotland Yard sein Möglichstes tut. Hat der Staatsrat nichts Wichtigeres zu besprechen?«
»Lord Harkness, wir leben in komplizierten Zeiten. Diese ›Bagatelldelikte‹, wie Sie es zu nennen belieben, könnten nur allzu bald schwerwiegende Folgen haben.«
»Dann werden wir über sie hinwegsteigen, wenn sie uns im Weg liegen. Mischlinge waren noch nie besonders beliebt. Nicht bei ihresgleichen, nicht bei unseresgleichen. Es wird immer wieder zu Übergriffen gegen sie kommen. Ich sehe keinen Grund, weshalb diese jüngsten Vorfälle außergewöhnlich sein sollten.«
»Sir, Sie wissen noch nicht alles. Die zuständigen Behörden glauben, dass zwischen den einzelnen Morden ein Zusammenhang besteht. Sie vermuten, dass sie mit böswilliger Absicht geplant und ausgeführt wurden.«
»Tatsächlich? Nun, ich nehme an, diese Leute müssen irgendwie ihr Geld verdienen.«
»Lord Harkness, dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt!« In das schläfrige Auftreten des Vorsitzenden hatte sich ein gewisses Unbehagen eingeschlichen. »Die Opfer sind alle…« Er zögerte. »Es sind alles Kinder.«
Lord Harkness wäre fast ein »Na und« herausgerutscht, aber das wäre wohl unpassend gewesen. Stattdessen sagte er: »Meines Wissens gibt es nur ganz wenige Mischlinge, die keine Kinder sind. Im Allgemeinen leben sie nicht lange.«
»Auch die Art und Weise, wie sie ermordet wurden, ist immer die gleiche.«
»Und die wäre?« Lord Harkness schien fest entschlossen zu beweisen, dass dieses Treffen von Anfang bis Ende Zeitverschwendung war. Niemand wollte irgendetwas über Mischlinge hören. Niemand wollte sich mit Mischlingen beschäftigen oder auch nur über sie nachdenken. Allerdings wollte auch niemand wissen, wie genau sie zu Tode gekommen waren, und so erntete Lord Harkness für seine Bemühungen nur finstere Blicke. Mr. Jelliby war versucht, sich die Ohren zuzuhalten.
Die Nase des Vorsitzenden zuckte. »Die Behörden sind sich da nicht ganz sicher.«
Ah. Gott sei Dank.
»Wie können Sie dann überhaupt behaupten, dass ein Zusammenhang zwischen den Morden besteht?«, fragte Lord Harkness in bissigem Tonfall. Er hielt sein Taschentuch in der Hand und sah aus, als würde er den Vorsitzenden am liebsten damit erwürgen.
»Nun ja, die Leichen! Sie sind…«
»Heraus mit der Sprache! Was ist mit ihnen?«
Der Vorsitzende blickte starr vor sich hin und sagte: »Lord Harkness, sie sind hohl.«
Mehrere Herzschläge lang herrschte vollständiges Schweigen. Eine Ratte trippelte unter dem gebohnerten Dielenboden hindurch, was in der Stille wie ein Hagelschauer klang.
»Hohl?«, wiederholte Lord Harkness.
»Sie sind leer. Keine Knochen oder inneren Organe. Nur Haut. Wie ein Sack.«
»Gütiger Himmel«, hauchte Lord Harkness und sank auf seinen Stuhl zurück.
»Allerdings.« Der Vorsitzende ließ den Blick über die anwesenden Gentlemen schweifen. Würde sich noch jemand erdreisten, die Sitzung zu stören? »Darüber stand nichts in den Zeitungen, habe ich recht? Denn sie wissen nichts davon. Sie wissen vieles nicht, und vorläufig müssen wir dafür sorgen, dass es dabei bleibt. Irgendetwas ist sonderbar an diesen Morden. Frevelhaft und unmenschlich. Meine Herren, davon haben Sie ebenfalls noch nichts gehört, aber die Mischlinge waren von Kopf bis Fuß mit Schriftzeichen bedeckt. Kleine rote Schriftzeichen in der Feensprache. Einem sehr alten und fremdartigen Feendialekt, der die Kryptographen von Scotland Yard vor ein Rätsel stellt. Bestimmt können Sie sich alle vorstellen, was für Unannehmlichkeiten das alles nach sich ziehen kann.«
»Aber sicher«, murmelte Graf von Fitzwatler hinter seinem herabhängenden Walrossschnauzbart hervor. »Und ich denke, dass offensichtlich sein sollte, wer dafür verantwortlich ist. Die feenfeindlichen Gruppierungen natürlich. Sie haben ein paar Straßenkinder ermorden lassen und ihre Leichen dann mit Feenschrift vollgekritzelt, um den Sídhe die Verantwortung in die Schuhe zu schieben. Für mich steht das außer Frage!«
Daraufhin wurde ein
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