Die Seltsamen (German Edition)
unvermittelt herum und redete stattdessen die Gentlemen auf der anderen Seite des Raums an. »Das liegt daran, dass sie ausgebeutet werden!«
Wieder folgte ein allgemeines Nicken und Zischen. Der modrige Geruch war inzwischen äußerst durchdringend. Lord Locktower machte ein finsteres Gesicht. Mr. Jelliby sah, wie er eine schwere alte Taschenuhr hervorzog und sie wütend anstarrte. Die Uhr war eine Antiquität, aus Eisen und mit Schnörkeln verziert. Mr. Jelliby fand sie einigermaßen unmodern.
Der Hochelf begann, zwischen den Stühlen auf und ab zu gehen. »So ist das schon, seit wir hier sind«, sagte er. »Erst werden wir abgeschlachtet, dann werden wir versklavt, und dann werden wir wieder abgeschlachtet. Und jetzt? Jetzt werden wir als Sündenbock missbraucht, dem alle Verbrechen angelastet werden, die so widerwärtig sind, dass die Menschen dafür nicht ihresgleichen zur Verantwortung ziehen möchten. Warum hasst uns England so sehr? Was haben wir getan, dass die Welt uns verachtet? Wir sind nicht freiwillig hier. Wir hatten nicht vor hierzubleiben. Aber die Straße nach Hause ist verschwunden, das Portal ist geschlossen.«
Der Hochelf hielt inne. Er musterte die versammelten Gentlemen lange und eingehend. Mit einer Stimme, die kaum ein Flüstern war, sagte er: »Wir werden unsere Heimat nie wiedersehen.«
Mr. Jelliby fand das maßlos traurig. Unwillkürlich nickte er, wie die meisten anderen auch.
Aber Mr. Lickerish war noch nicht fertig. Er trat in die Mitte des Raumes, direkt neben das Podium des Vorsitzenden, und sagte: »Das Schicksal hat unsägliches Leid über uns gebracht. Wir leben hier in Ketten, in Slums eingesperrt, zwischen Eisen und Glocken, die uns bis in jede Faser unseres Daseins quälen, aber genügt Ihnen das? O nein! Wir müssen auch noch Mörder sein. Die Mörder unschuldiger Kinder, Kinder, die vom selben Blute sind wie wir.« Er schüttelte einmal den Kopf, und als das Licht in einem anderen Winkel darauffiel, schienen seine Gesichtszüge sich zu verändern, weicher zu werden. Plötzlich wirkte er nicht mehr so kalt, sondern eher tragisch, wie die weinenden Engel im Park vor dem St. James’s Palace. »Ich kann nur hoffen, dass die Gerechtigkeit letztendlich obsiegen wird.«
Mr. Jelliby warf dem Hochelfen einen, wie er hoffte, zutiefst mitfühlenden Blick zu. Die anderen Gentlemen sogen hörbar die Luft ein oder räusperten sich missbilligend. Dann jedoch erhob sich Lord Locktower und stampfte mit dem Fuß auf.
»Es reicht jetzt!«, rief er und blickte wütend in die Runde. »Dieses Gejammer und Geheule ist unerträglich. Ich bin nicht bereit, mir das noch länger anzuhören.« Der Gentleman zwei Plätze neben ihm versuchte, ihn zu beruhigen. Doch stattdessen wurde seine Stimme noch lauter. Andere Männer fielen ihm ins Wort. Lord Locktower fing an zu brüllen, und sein Gesicht wurde hochrot. Als der Herzog von Buccleuch ihn zurück auf seinen Stuhl ziehen wollte, schlug er ihm mit seinem Handschuh ins Gesicht.
Der ganze Raum schien tief Luft zu holen. Dann brach die Hölle los. Stühle wurden umgeworfen, Gehstöcke zu Boden geschleudert, und alle sprangen auf und schrien herum.
Mr. Jelliby versuchte, zur Tür zu gelangen. Vornehme Herren rempelten einander mit den Ellenbogen an, und irgendjemand schrie aus voller Lunge: »Nieder mit England!« Mr. Jelliby musste sich abwenden, und dabei fiel sein Blick wieder auf Mr. Lickerish. Der Hochelf stand in der Mitte des Tumults, eine blasse, schmächtige Gestalt in einem Meer aus roten Gesichtern und auf und ab hüpfenden schwarzen Hüten. Und lächelte.
DRITTES KAPITEL
Schwarze Flügel, schwarzer Wind
Bartholomew lag, zusammengerollt und so reglos wie ein Stein, auf dem Dachboden. Das Tageslicht verblasste allmählich. Während die Sonne hinter dem hochaufragenden Bollwerk von New Bath versank, streckte das Licht seine rötlichen Finger durch das kleine runde Fenster und strich dem Jungen über den Kopf, doch er bewegte sich noch immer nicht.
Eine schwere, kalte Furcht hatte sich in seinem Magen eingenistet, und er wurde sie einfach nicht mehr los.
Er sah die pflaumenfarbene Dame die Gasse entlangschlendern, wieder und immer wieder. Sie hatte das Haar auseinandergeschoben, das kleine verwachsene Gesicht starrte darunter hervor, und der Junge mit den Brombeerhaaren folgte ihr in einem wie Flügel geformten Schattengespinst. Edelsteine und Hüte und violette Röcke. Eine blaue Hand, die Glas zermalmte.
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