Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
Vom Netzwerk:
allgemeines Zischen laut, aber ebenso viele der Anwesenden nickten zustimmend. Ungefähr die Hälfte des Rates gehörte der einen oder anderen feenfeindlichen Gruppierung an. Die andere Hälfte war der Meinung, dass es engstirnig war, überhaupt gegen irgendetwas zu sein, und fand Magie absolut faszinierend – für sie waren die Feen der Schlüssel zur Zukunft.
    »Nun, und ich sage, dass die Feen dahinterstecken!«, rief der uralte Lord Lillicrapp und schlug mit seinem Gehstock so fest auf den Boden, dass ein Holzsplitter wie ein Funke aufflog. »Kleine Scheusale. Wenn Sie mich fragen, das sind Teufel, die direkt aus der Hölle kommen. Deshalb ist England auch so auf den Hund gekommen! Was ist nur aus unserem Land geworden? Was ist nur aus Bath geworden? Alles läuft immer mehr aus dem Ruder. Bald wird es zu einem Bürgerkrieg kommen, und was machen wir dann? Sie werden Kanonen in Rosensträucher verwandeln und die Städte erobern. Sie verstehen unsere Gesetze nicht. Morde sind ihnen gleichgültig. Ein paar Tote hier und dort? Pah! « Der alte Mann spuckte verächtlich aus. »Das stört sie nicht im Mindesten.«
    Überall um ihn herum wippten Köpfe auf und ab. Mr.   Jelliby rieb sich die Nase und betete inständig, die Sitzung würde bald ein Ende finden. Er wäre so gern an einem anderen Ort gewesen, an einem Ort, wo es fröhlich und laut zuging, möglichst mit Brandy und in Gesellschaft von Leuten, die sich über das Wetter unterhielten und über Weinhändler.
    Als Nächstes ergriff der Erzbischof von Canterbury das Wort, ein hochgewachsener, finster dreinblickender Mann mit einem verhärmten Gesicht, dessen – nicht mehr ganz neuer – Tweedanzug im Vergleich zu den Krawatten und bunten Wämsern der anderen Gentlemen unangenehm hervorstach.
    »Ich möchte Sie bitten, kein voreiliges Urteil zu fällen«, sagte er und lehnte sich auf seinem Stuhl vor. »Mischlinge waren in unserer Gesellschaft schon immer ein Problem. Die Kirche nennt sie ›Seltsame‹, und ich kann Ihnen versichern, dass das noch zu den freundlicheren Namen gehört. ›Bleiche Dämonen‹ war schon immer sehr beliebt. ›Milchblüter‹. ›Teufelskinder‹. In unseren abgelegeneren Dörfern enden sie noch immer am Galgen. Die Leute halten sie für eine Geißel der Menschheit in Kindergestalt. Die Feen ekeln sich vor ihnen, weil sie hässlich sind, und begraben sie oft bei lebendigem Leibe unter Holunderbüschen, denn sie befürchten, das könnte ansteckend sein. Ich würde meinen, beide Parteien sind töricht und unwissend genug, um zu morden.«
    Bisher hatte Mr.   Lickerish der Auseinandersetzung einigermaßen gelassen zugehört. Bei den Worten des Erzbischofs jedoch erstarrte er. Sein Mund verzog sich zu einem dünnen Strich. Mr.   Jelliby sah, wie seine Hand zur Tasche seines Wamses glitt. Seine Finger schoben sich hinein, zuckten, verharrten dann reglos.
    Der Hochelf stand auf. Mr.   Jelliby glaubte, feuchte Erde zu riechen. Die Luft fühlte sich plötzlich nicht mehr so stickig an, nur alt und schwül und faulig-süß.
    Ohne die Erlaubnis des Ratsvorsitzenden abzuwarten, begann Mr.   Lickerish zu sprechen.
    »Gentlemen, diese Vorfälle sind wirklich äußerst beunruhigend. Aber zu behaupten, die Feen würden Mischlinge umbringen? Das ist erbärmlich. Ich werde mir nicht schweigend anhören, wie das Leid Englands abermals den Feen angelastet wird. Wir sind Staatsbürger! Patrioten! Haben Sie Waterloo vergessen? Wo wäre England ohne seine tapferen Feensoldaten? Von Napoleon unterjocht, das ganze Empire eingeschlossen. Und die amerikanischen Kolonien? Ohne die unermüdlichen Anstrengungen unserer Trolle und Riesen, die in der infernalischen Hitze der Fabriken unsere Kanonen schmieden und unsere Musketenkugeln gießen, die unsere Kriegsschiffe und Ätherflinten bauen, wäre diese aufständische Nation noch immer unbezwungen. Wir schulden den Feen viel!« Mr.   Lickerish verzog keine Miene, aber seine Worte waren eigentümlich betörend, voller Nuancen und unterschwelliger Leidenschaft. Selbst die Ratsmitglieder, die den Feen alles andere als wohlgesonnen waren, merkten sichtlich auf.
    Nur der Mann neben Mr.   Jelliby – ein Lord Locktower – schnalzte mit der Zunge. »Ja, unter anderem auch dreiundvierzig Prozent aller Verbrechen«, sagte er.
    Mr.   Lickerish wandte sich ihm zu und bleckte die spitzen Zähne. »Das liegt daran, dass sie arm sind«, sagte er. Einen Moment lang stand er da und betrachtete Lord Lockwood. Dann fuhr er

Weitere Kostenlose Bücher