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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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ungeschickt. Alles in Ordnung?«
    Mr.   Lickerish warf Mr.   Jelliby einen vernichtenden Blick zu und löste sich aus seinem Griff. Wie immer war er makellos gekleidet, jeder Knopf an seinem Platz, jedes Stofffitzchen wunderschön und neu. Sein Wams war aus schwarzem Samt, seine Krawatte aus silbernem Tuch und einwandfrei gebunden, und außerdem gab es aufgestickte Blätter zu bewundern, Seidenstrümpfe und so steif gestärkte Baumwolle, dass man sie mit einem Hammer hätte zerschlagen müssen. Dadurch fällt nur der Dreck mehr auf, dachte Mr.   Jelliby bei sich. Er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu lächeln. Unter den Fingernägeln des Herrn Ministers zeichneten sich braune Halbmonde ab, als hätte er in der kalten Erde gewühlt.
    »Morgen?«, sagte Mr.   Lickerish. Seine Stimme war dünn, nur ein Rascheln wie ein Windstoß, der durch kahle Äste fährt. »Junger Mann, der Morgen ist längst vorbei. Es ist nicht einmal mehr Mittag. Es ist fast Nacht.«
    Mr.   Jelliby sah ihn unsicher an. Er wusste nicht genau, was Lickerish damit meinte, aber es war bestimmt nicht höflich, als jung bezeichnet zu werden. Soweit er wusste, war der Herr Minister nicht einen Tag älter als er. Aber das war schwer zu sagen. Mr.   Lickerish gehörte zu den Hochelfen, und wie alle Hochelfen war er so groß wie ein kleiner Junge, hatte keine Haare, und seine Haut war so weiß und glatt wie der Marmor unter seinen Schuhen.
    »Na schön«, sagte Mr.   Jelliby fröhlich. »Auf jeden Fall sind wir spät dran.« Und sehr zum Ärger des Herrn Ministers schritt er bis zum Kabinettszimmer neben ihm her und plauderte über das Wetter, die Weinhändler und sein Ferienhaus, das es in Cardiff fast ins Meer geweht hätte.
    Der Raum, in dem der Staatsrat tagte, war klein, mit dunklem Holz vertäfelt und befand sich im Herzen des Gebäudes; die diamantverglasten Fenster gingen auf den Innenhof hinaus, in dem ein Weißdornbaum stand. Reihen von Stühlen mit hoher Rückenlehne drängten sich aneinander, und bis auf zwei waren alle besetzt. Der Ratsvorsitzende, ein gewisser Lord Horace V. Soundso (Mr.   Jelliby konnte sich seinen Namen einfach nicht merken), hatte sich in der Mitte an einer Art Podium niedergelassen, das kunstvoll mit Schnitzereien verziert war: Faune und pralle Weintrauben. Offenbar hatte er gedöst, denn er setzte sich erschrocken auf, als die beiden Nachzügler eintraten.
    »Ah«, sagte er, faltete die Hände über seinem mächtigen Bauch und runzelte die Stirn. »Mr.   Jelliby und der Herr Justizminister haben also doch beschlossen, uns mit ihrer Anwesenheit zu beehren.« Er musterte sie mürrisch. »Bitte setzen Sie sich. Dann können wir nun endlich anfangen.«
    Ein allgemeines Grummeln wurde laut, Füße scharrten und Beine wurden angezogen, während Mr.   Jelliby sich seinen Weg zu einem freien Stuhl suchte. Der Hochelf entschied sich für einen Stuhl auf der anderen Seite des Raumes. Nachdem sie sich beide gesetzt hatten, räusperte sich der Vorsitzende.
    »Hoch geschätzte Ratsherren«, begann er, »ich wünsche Ihnen allen einen guten Morgen.«
    Eine der anwesenden Feen zog die millimeterdünnen Augenbrauen hoch, und Mr.   Jelliby musste grinsen. (Schließlich war es nicht Morgen, sondern Nacht. )
    »Wir haben uns heute versammelt, um uns mit einer sehr ernsten, ja beunruhigenden Angelegenheit zu befassen.«
    Noch mal verflixt. Mr.   Jelliby seufzte und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Mit ernsten, ja beunruhigenden Angelegenheiten befasste er sich nur sehr ungern. Das überließ er nach Möglichkeit Ophelia.
    »Kann ich davon ausgehen, dass die meisten von Ihnen die heutigen Schlagzeilen gesehen haben?«, fragte der Vorsitzende mit schleppender Stimme. »Über den erneuten Mord an einem Mischling?«
    Ein Murmeln ging durch die Anwesenden. Mr.   Jelliby wand sich innerlich. Ach, bitte kein Mord. Warum konnten die Menschen nicht einfach nett zueinander sein?
    »Für alle anderen erlaube ich mir, die Ereignisse kurz zusammenzufassen.«
    Mr.   Jelliby zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Die Mühe müssen Sie sich nicht machen, dachte er halb verzweifelt. Allmählich wurde es unerträglich heiß. Die Fenster waren geschlossen, und die Luft in dem Raum schien stillzustehen.
    »Allein im vergangenen Monat hat es fünf Todesfälle gegeben«, sagte der Vorsitzende. »Insgesamt also bisher neun. Die meisten Opfer scheinen aus Bath zu stammen, was allerdings nur schwer

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