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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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entgegengespuckt, die hinauswollten. Aber Bartholomew hatte die Tür nie auch nur blinzeln sehen.
    Seine Finger ertasteten den Riegel, und er schob ihn beiseite. Dann duckte er sich unter der Kette hindurch auf das Pflaster hinaus.
    Es war seltsam, im Freien zu sein. Die Luft hier draußen war stickig und feucht. Es gab keine Wände oder Decken, nur die Gasse, die sich in andere Gassen verzweigte und in die große weite Welt hinaus führte. Alles kam ihm so riesig vor, so furchterregend und grenzenlos gefährlich. Aber Bartholomew hatte keine andere Wahl.
    Er huschte über das Pflaster zum Haus der Buddelbinsters und blieb unter dem niedrigen Torbogen stehen. Im Vorgarten war es dunkel, und im Haus ebenfalls. Die zahllosen Fenster standen weit offen. Sie sahen aus, als würden sie ihn beobachten.
    Er sprang über das kaputte Gatter hinweg und drückte sich an die Mauer. Die Nacht war nicht kalt, aber er zitterte trotzdem. Hier hatte die pflaumenfarbene Dame gestanden, vor wenigen Stunden erst, und seinen Freund mit ihren in blauen Samt gehüllten Fingern zu sich gelockt.
    Bartholomew schüttelte sich und löste sich von der Mauer. Der Kreis, den die Dame auf den Boden gegossen hatte, war immer noch da, nur wenige Schritte rechts von dem Weg, der zum Haus führte. Von seinem Dachfenster aus hatte Bartholomew ihn deutlich sehen können, aber aus der Nähe zeichnete er sich nur schwach auf der Erde ab – er war so gut wie unsichtbar, wenn man nicht bereits wusste, dass er da war. Bartholomew kniete sich hin und schob die Unkrautbüschel beiseite, um ihn eingehender zu betrachten. Seine Stirn legte sich in Falten. Der Kreis bestand aus Pilzen, winzigen schwarzen Pilzen, die nicht so aussahen, als könnte man sie essen. Er hob einen davon auf und spürte, wie er sich weich und glatt an seine Fingerkuppen schmiegte. Sekunden später schien er zu zerfließen, bis nur noch ein schwarzes Tröpfchen Bartholomews weiße Haut verfärbte.
    Neugierig starrte er seine Hand an. Legte sie in den Kreis hinein. Nichts geschah. Dann noch eine Hand und seine Stirn. Fast hätte er gelacht. Der Kreis hatte seine Macht verloren. Jetzt waren das einfach nur noch Pilze.
    Bartholomew stand auf und grub seinen bloßen Zeh im Inneren des Kreises in die kalte Erde. Und trampelte auf ein paar Pilzen herum. Er war sich nicht sicher, aber er meinte, dabei ein leises Kichern zu hören, wie das Flüstern einer Menschenmenge in weiter Ferne. Ohne nachzudenken, sprang er in die Luft und landete in der Mitte des Pilzkreises.
    Um ihn herum erhob sich ein entsetzliches Kreischen. Finsternis gischtete empor, und plötzlich waren überall Flügel, schlugen ihm ins Gesicht, bedrängten ihn von allen Seiten. Dann fiel er, flog er, und ein eisiger Wind zerrte an seinen Haaren und an seinen fadenscheinigen Kleidern.
    »Du Schwachkopf!«, schrie er. »Du Idiot, was hast du dir bloß gedacht, du…« Aber es war zu spät. Die Finsternis ebbte bereits wieder ab. Und was er jetzt sah, war nicht die Krähengasse oder der Vorgarten der Buddelbinsters. Er befand sich nicht mehr in den Feenslums. Durch die Flügel hindurch blitzten wie vereinzelte Sonnenstrahlen Luxus und Wärme auf, das Funkeln von Messing, von geschliffenem Holz und mit Blättern bestickten schweren grünen Vorhängen. Ganz in der Nähe brannte ein Feuer. Er konnte es nicht sehen, hörte aber ein unverkennbares Knistern und Knacken.
    Voller Verzweiflung versuchte er, der Finsternis mit einem Sprung zu entfliehen. Bitte, bitte, bring mich wieder zurück. Weit hatte die Magie ihn in diesen wenigen Sekunden doch bestimmt nicht fortgetragen, oder? Ein paar Meilen vielleicht, aber wenn er sich beeilte, konnte er wieder zu Hause sein, bevor Feenwesen und Engländer sich auf den Straßen drängten.
    Die Flügel peitschten an seinem Gesicht vorbei. Die Schwerkraft schien sich ihrer eigenen Gesetze unsicher zu werden, und einen Moment lang glaubte er, entkommen zu können; er schwebte schwerelos in der Luft. Und dann waren die Flügel fort. Das Kreischen verstummte. Sein Kopf krachte auf glattes Holz, und ganz kurz stockte ihm der Atem.
    Halb betäubt stützte sich Bartholomew auf seine Ellenbogen. Er lag auf dem Boden des wunderschönsten Zimmers, das er je gesehen hatte. Da drüben waren die grünen Vorhänge, hinter denen die Nacht lauerte. Dort der offene Kamin und die Flammen. Warmer, wohlriechender Rauch trieb vom Kaminrost herüber. Bücher bedeckten die Wände. Lampen mit bemalten Seidenschirmen

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