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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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Über einem Auge war ein grünes Monokel aus Glas befestigt, über das alle paar Sekunden, wie ein Blinzeln, eine Linse hinwegglitt. Nun zischte unter einer Schraube in der Einfassung ein dünner Dampfstrahl hervor.
    »Arthur Jelliby?«, fragte die Kreatur. Sie hatte eine hohe, sanfte Stimme, und ihr anderes Auge – das schräge Feenauge – drückte sie beim Sprechen fast ganz zu. Mr.   Jelliby gefiel das überhaupt nicht.
    »Ah…«, sagte er.
    »Bitte, kommen Sie doch herein.« Das Feenwesen machte eine einladende, durchaus anmutige Handbewegung. Mr.   Jelliby trat über die Schwelle, darum bemüht, sein Gegenüber nicht anzustarren. Die Tür krachte hinter ihm ins Schloss, und augenblicklich herrschte fast völlige Stille. Der Lärm von der Fleet Street war wie abgeschnitten. Der Regen war plötzlich weit, weit weg, nur noch ein schwaches Rauschen am Rande seiner Wahrnehmung.
    Von Mr.   Jellibys Jacke tropfte es auf die schwarz-weißen Fliesen. Er stand in einem hohen, hallenden Vestibül, von Schatten bedrängt, die schwer und feucht in den Ecken und Türöffnungen lauerten. Nirgendwo war auch nur ein brennender Docht zu sehen, weder eine Gaslampe noch eine Kerze. Schimmel zog sich in langen grünen Streifen über die Holzvertäfelung. Ausgebleichte Wandteppiche schmiegten sich, kaum sichtbar in der Dunkelheit, an das Gemäuer. Eine Standuhr mit kleinen Gesichtern anstelle der Zahlen lehnte schweigend an der Wand.
    »Hier entlang, bitte«, sagte das Feenwesen und durchquerte das Vestibül.
    Mr.   Jelliby folgte ihm, wobei er unsicher an seinen Handschuhen zupfte. Eigentlich hätte der Butler sie ihm abnehmen müssen. Und in einem anständigen Haus hätte er dies auch getan, zusammen mit Hut und Jacke. In dem Moment wurde sich Mr.   Jelliby bewusst, wie laut seine nassen Schuhe auf den Boden klatschten. Er wagte nicht, den Blick zu senken, aber in seiner Vorstellung ließ er, einer riesigen Schnecke gleich, eine glitschige Spur auf den Fliesen zurück.
    Der Feenbutler führte ihn zum anderen Ende der Eingangshalle, und dann stiegen sie die Treppe hinauf. Die Treppe war ein massives Bauwerk aus morschem Holz, und in das Geländer waren Meerjungfrauen geschnitzt, die so finster dreinblickten, dass Mr.   Jelliby sich nicht getraute, die Hand daraufzulegen.
    »Mr.   Lickerish wird Sie in der grünen Bibliothek empfangen«, sagte der Butler über die Schulter hinweg.
    »Ach, das ist aber nett«, murmelte Mr.   Jelliby, denn er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Irgendwo im Haus wehklagte der Wind. Anscheinend hatte jemand vergessen, ein Fenster zu schließen.
    Die seltsame Stimmung, die in diesem Haus herrschte, brachte Mr.   Jelliby immer mehr aus dem Gleichgewicht. Menschen waren hier ganz offensichtlich fehl am Platze. Die Bilder an den Wänden zeigten keine Landschaften oder übellaunige Vorfahren wie bei ihm zu Hause, sondern alltägliche Dinge: einen angelaufenen Löffel, einen Krug, auf dem eine Fliege saß, eine grellrote Tür in einer Mauer. Dabei waren die Gemälde in dunklen Farben ausgeführt, sodass sie entschieden düster wirkten. Der Löffel sah aus, als wäre damit jemand umgebracht worden, der Krug war voller Gift, und die rote Tür führte zweifelsohne in einen mit fleischfressenden Pflanzen überwucherten Garten. Keine Fotografien hingen an den Wänden, kein Krimskrams stand herum. Stattdessen gab es zahlreiche Spiegel und Gardinen und kleine Bäume, die aus Rissen in der Vertäfelung hervorwuchsen.
    Mr.   Jelliby hatte fast den obersten Treppenabsatz erreicht, als er einen kleinen buckligen Kobold bemerkte, der die Galerie über dem Vestibül entlangeilte. Etwas klirrte in seiner Hand, und er blieb an jeder Tür stehen, worauf es klickte und kratzte, und da wurde Mr.   Jelliby klar, dass er sie abschloss, eine nach der anderen.
    Im Obergeschoss verwandelte sich das Haus in ein Labyrinth, und Mr.   Jelliby verlor vollkommen die Orientierung. Der Butler führte ihn erst einen Korridor entlang und dann einen anderen, durch Wohnzimmer und Bogengänge und lange, düstere Säulenhallen, kurze Treppen hinauf und immer tiefer in das Haus hinein. Bisweilen nahm Mr.   Jelliby aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Er hörte Füße trippeln und Stimmen kichern. Aber jedes Mal, wenn er sich umdrehte, war da nichts. Das Gesinde höchstwahrscheinlich, dachte er bei sich, aber überzeugt war er nicht.
    Nach einiger Zeit kamen sie an einem langen, schmalen Korridor vorbei, einem

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