Die Seltsamen (German Edition)
quietschend über den Boden.
Die Tür barst mit einem lauten Krachen nach innen.
Doch die Flügel hüllten Bartholomew bereits ein, die Finsternis umbrandete ihn, und der Wind zerrte an seiner Kleidung. Allerdings war dieses Mal etwas anders. Verkehrt. Er war nicht allein in der Schwärze – klamme, dürre Gestalten huschten herbei und stupsten ihn an. Münder pressten sich an seine Ohren und flüsterten mit finsteren Stimmchen. Eine Zunge glitschte ihm eisig über die Wange. Und dann wurde alles von den Schmerzen verdrängt, von grauenvollen schneidenden Schmerzen, die ihm die Arme zerfetzten und sich in seine Knochen fraßen. Er konnte sich gerade noch so lange beherrschen, bis das Zimmer ins Nichts davonwirbelte. Dann stimmte er in das Kreischen des Windes und der tosenden Flügel ein.
VIERTES KAPITEL
Nonsuch House
Nonsuch House sah einem Schiff zum Verwechseln ähnlich – einem großen, furchterregenden Schiff aus Stein, das im Morast von London am Nordende der Blackfriars Bridge auf Grund gelaufen war. Die zerklüfteten Dächer waren die Segel, die mit Flechten bewachsenen Schornsteine die Masten, und der Rauch, der von ihnen aufstieg, sah aus wie zerfledderte Flaggen im Wind. Die Mauern des Hauses waren von zahllosen kleinen grauen Fenstern übersät. Eine zerschrammte Tür führte auf die Straße hinaus. Und darunter schäumte der Fluss und speiste die Moosklumpen, die das Fundament emporkletterten und den Stein mit schwarzem Schleim bedeckten.
Eine Kutsche bahnte sich ihren Weg durch das abendliche Gedränge auf der Fleet Street. Ein gleichmäßiger Regen fiel. Gerade wurden die Straßenlaternen angezündet, und ihr Licht spiegelte sich in den frischgewachsten Türen der Kutsche und warf Flammenzungen auf ihre Fenster.
Direkt vor Nonsuch House kam die Kutsche zitternd zum Stehen. Mr. Jelliby schlüpfte geduckt hinaus und sprang über eine Pfütze, um in den Schutz des Hauseingangs zu gelangen. Er holte seinen Gehstock hervor und klopfte zweimal gegen das schwarze Holz. Dann schlang er die Arme um sich und blickte finster drein.
Eigentlich wollte er gar nicht hier sein. Überall sonst, nur nicht hier. Zu Hause auf seinem Schreibtisch lagen, wild durcheinander, goldgeränderte Visitenkarten und monogrammierte Einladungen, die ihm zu einer ganzen Flucht lebhafter und eleganter Salons Zutritt verschafft hätten. Und was tat er? Er stand in Wind und Regen vor dem Haus von Mr. Lickerish, dem Justizminister. Gegen so etwas sollte es Gesetze geben.
Diese verflixten Bierabende … Sie mochten eine uralte Tradition sein, aber das hieß noch lange nicht, dass Mr. Jelliby an ihnen Gefallen finden musste. Mitglieder des Staatsrats trafen sich, jeweils zu zweit oder zu dritt, in einem ihrer Stadthäuser, um bei einem Gläschen freundlich zu plauschen, alles in der Hoffnung, sie kämen einander näher und lernten dabei, abweichende Meinungen zu respektieren. Mr. Jelliby blickte noch finsterer drein. Von wegen freundschaftlich plauschen. Vielleicht war das vor vier Jahrhunderten der Fall gewesen, als alle Ratsmitglieder noch Bier tranken. Heutzutage gab es nur Tee, und die Zusammenkünfte waren eine eher frostige Angelegenheit, vor der es den Gastgebern ebenso sehr graute wie den Gästen.
Mr. Jelliby straffte die Schultern. Auf der anderen Seite der Tür rasselten Schlösser. Er musste wenigstens den Eindruck erwecken, als wäre er nicht lieber irgendwo anders! Also hob er das Kinn, faltete die behandschuhten Hände auf seinem Gehstock und bemühte sich, eine möglichst freundliche Miene aufzusetzen.
Mit einem letzten dumpfen Klonk ging die Tür auf. Etwas Großes, Hageres streckte den Kopf heraus und blinzelte Mr. Jelliby an.
Mr. Jelliby blinzelte zurück. Die Kreatur, die sich aus dem Halbdunkel des Eingangs zum ihm vorbeugte, war über zwei Meter groß, wirkte dabei allerdings so knochig und ausgehungert, als könnte sie sich kaum auf den Beinen halten. Die fahle Haut an ihren Händen war trocken und so dünn wie Birkenrinde, und darunter zeichneten sich deutlich die kleinen Knöchel ab. Er (denn es war ein Er, wie Mr. Jelliby jetzt erkannte) trug einen schäbigen Anzug, der ihm gerade einmal bis über die Waden reichte, und verströmte einen dezenten Friedhofsgeruch. Aber das war nicht das Seltsamste an ihm. Seine rechte Gesichtshälfte war hinter einem Messinggitter verborgen, einem Geflecht aus winzigen Zahnrädern und Kolben, die in fortwährender Bewegung surrten und tickten.
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