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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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brechen.
    Als er schließlich wieder so langsam ging, dass er normal atmen konnte, schloss Bartholomew zu ihm auf. »Was ist passiert?«, fragte er und wich dabei einem Haufen von Weidenkörben aus. Eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Wahrscheinlich würde es ihn nur wütend machen. Sie hatten so viele Stunden auf dem Revier verschwendet, und jetzt hatte der Gentleman offenbar wieder irgendeine Dummheit begangen und ihnen Ärger eingebrockt. Aber irgendetwas musste Bartholomew doch sagen, um wiedergutzumachen, dass er geschwiegen hatte, als der Gentleman sich bei ihm bedankt hatte.
    »Melusine war nur eine Schachfigur«, sagte Mr.   Jelliby, ohne Bartholomew auch nur anzuschauen. Er hob die Hand, um eine vorbeifahrende Kutsche anzuhalten, die von zwei riesigen Wölfen gezogen wurde. Die Wölfe trabten weiter, ihre gelben Augen blind, ihr Blick stumpf. Mr.   Jelliby schaute ihnen wütend nach. »Inzwischen leuchtet mir das ein. Die Dame stand unter dem Einfluss einer Fee. Wie eine Marionette. Und ich würde meinen kleinen Finger verwetten, dass diese Fee für den Justizminister arbeitet. Deshalb hat sie auch versucht, mich zu töten, und nachdem sie jetzt hinter Schloss und Riegel sitzt, hat sich die Fee dieses bärtigen Kerls bemächtigt. Allerdings wirkte er etwas unsicher auf den Füßen. Das verschafft uns hoffentlich etwas Zeit, bevor er uns wieder nachstellt.«
    Mr.   Jelliby hob erneut die Hand, und dieses Mal hielt eine Kutsche. Sie dampfte aus allen Nähten, setzte sich jedoch wieder klappernd und ohne Fahrgäste in Bewegung, nachdem er dem Fahrer erklärt hatte, wohin sie wollten.
    Mr.   Jelliby stieß einen Fluch aus und lief weiter. Sie überquerten eine Steinbrücke, die einen schäumenden kleinen Fluss überspannte. »Wir müssen Proviant kaufen. Waffen vielleicht auch, und ich brauche einen Hut. Ich habe keine Ahnung, was bei den anderen Koordinaten auf uns wartet, aber dieses Mal werde ich vorbereitet sein.«
    »Was für Koordinaten?«, fragte Bartholomew. »Ich muss meine Schwester finden. Wohin gehen wir?«
    »Nach Norden. Ich kann dir nicht sagen, wo deine Schwester ist, aber ich weiß, wohin die Vögel von Mr.   Lickerish geflogen sind, und wenn sie irgendwo ist, dann dort. Wir müssen in die Feenstadt gelangen und einen Zug nach Yorkshire nehmen. Wir fahren nach Norden.«
    Keine Viertelstunde, nachdem sie aus dem Polizeirevier geflohen waren, ließen sie sich hinter dem roten Vorhang einer Rikscha auf die Bank fallen und ruckelten die Straße nach New Bath empor. Die Rikscha war ein herkömmliches Modell: Gezogen wurde sie von einem Veloziped, und in die Pedale trat ein winziger Irrwisch, der sich mit ganzer Kraft abstrampelte und dabei laut keuchte.
    Im Inneren der Rikscha war es dunkel. Mr.   Jelliby war auf die Bank zurückgesunken, hielt sich den schmerzenden Kopf und stöhnte. Bartholomew drückte sich in den hintersten Winkel.
    Als er sicher war, dass der Gentleman ihm keine Beachtung schenkte, schob er den Vorhang einen Spaltweit auf und blickte voller Ehrfurcht auf die lotrechte Stadt hinaus, die sich um ihn herum erstreckte. Er war noch nie in New Bath gewesen. Von der Krähengasse bis zur Stadtgrenze war es kaum eine halbe Meile, aber in Bartholomews Welt glichen die schmalen Gassen, die dazwischen lagen, einem undurchdringlichen Wald. Man ging nicht einfach irgendwohin. Das Haus zu verlassen, war äußerst unklug, auf die Straßen zu gehen, war gefährlich, aber sich in die Feenslums zu wagen, das war unfassbar töricht. Bis vor kurzem hatte Bartholomew es nicht nötig gehabt, unfassbar töricht zu sein. Außerdem mochte Mutter New Bath nicht. Sie hatte ihm immer erzählt, das sei ein verruchter, tödlicher Ort, noch schlimmer als die Feenbezirke der alten Stadt. In New Bath, so hatte sie ihm erklärt, ließen die Sídhe ihren Gelüsten freien Lauf, dort lebten die Feen ebenso wild und gesetzlos wie in ihrem eigenen Land, und dorthin reichte nicht einmal der lange Arm der Königlichen Gendarmerie. Als Bartholomew noch sehr klein gewesen war, hatte seine Mutter ihn auf den Schoß genommen und ihm eine Geschichte erzählt. Derzufolge war New Bath ein lebendiges Geschöpf, und eines Tages würden ihm Beine wachsen, es würde die wolkengrauen Augen öffnen, aufs Land hinausmarschieren und die Stadt hinter sich lassen.
    Wie er so hinter dem Umhang hervorschaute, kam Bartholomew die Geschichte beinahe glaubhaft vor. Die Rikscha fuhr knarrend eine steile Straße hinauf, die aus

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