Die Seltsamen (German Edition)
Käfig. Er war aus Eisen gefertigt, das spürte er sogar, ohne ihn zu berühren, dank eines schwer fassbaren Schmerzes in seinem Hinterkopf. Die Kreatur in dem Käfig schien zu wittern, dass sie beobachtet wurde. Die Flügel falteten sich auf, und ein zartes Gesicht schaute zu Bartholomew heraus. Es hatte einen breiten Mund und blaue Lippen.
Einen Moment lang musterten sie einander schweigend. Die Flügel falteten sich noch weiter auf. Bartholomew sah den Körper des Sylphen, der, verglichen mit den Flügeln, unverhältnismäßig klein war; die spindeldürren Arme und Beine gingen zwischen dem Gefieder beinahe verloren. Dann fletschte der Sylphe die Zähne und stieß ein Fauchen aus.
»Mischling«, sagte er leise.
Bartholomew riss den Kopf von dem Käfig zurück.
»Mischling«, sagte der Sylphe, lauter dieses Mal.
»Sei ruhig«, flüsterte Bartholomew.
»Mischling, Mischling, Mischling.« Der Sylphe lief jetzt im Käfig auf und ab, trippelte im Kreis, den Blick stur auf Bartholomew gerichtet. Dann stieß er einen Schrei aus und warf sich gegen das Gitter. Auf seiner Haut blieben Brandmale zurück.
»Mischling!«
Bartholomew wich zurück und stieß dabei ein Tablett mit der Aufschrift LÜGEN von einem Regal. Sie fielen auf den Boden und begannen, sich auszudehnen, blaue und smaragdfarbene Knollen, die immer größer wurden, bis sie explodierten und ein stinkendes Gas verströmten. Bartholomew drehte sich um und wollte wegrennen, aber vom anderen Ende des Ganges kam bereits ein Gnom auf ihn zugestürzt. Bevor Bartholomew zwei Schritte zurückgelegt hatte, wurde er von kalten Fingern gepackt, und die Stoffstreifen, mit denen er vor seiner Flucht von zu Hause seinen Kopf umwickelt hatte, wurden ihm vom Gesicht gerissen. Der Gnom sprang von ihm fort, als wäre er gebissen worden.
»Raus«, sagte er, seine Stimme nur noch ein Fiepsen. »Raus hier, bevor die Kunden dich sehen. So etwas Scheußliches wie dich wollen wir hier nicht!«
Bartholomew rannte an den Bohnensamen und den Marionetten vorbei und hielt die Stoffstreifen mit den Händen auf das Gesicht gepresst. An der Tür stand der Gentleman, die Arme voller Pistolen, einem neuen Hut, einem Kompass und einer übergroßen Landkarte. Er wollte etwas sagen, aber so lange wartete Bartholomew nicht. Er hastete aus dem Basar hinaus und auf den schaukelnden Laufsteg. Eine Gruppe zwergenhafter Feen mit roten Zipfelmützen kam ihm entgegen. Hinter sich hörte Bartholomew Flügel schlagen und kichernde Stimmen. Zwischen zwei Zelten entdeckte er eine dunkle Nische, und sofort stürzte er hinein. Dort ging er zu Boden und rollte sich zu einer Kugel zusammen.
Alle diese Feen haben mich für einen Kobold gehalten. Deshalb haben sie mich auch nicht angestarrt. Sie dachten, ich wäre wie sie. Aber er war nicht wie sie. Er war nicht wie irgendjemand sonst.
Mr. Jelliby fand ihn etwa zehn Minuten später. Bartholomew hatte den Kopf unter den Armen vergraben. Er zitterte ein wenig.
»Junge?«, fragte Mr. Jelliby leise. »Was ist denn los? Warum hast du nicht auf mich gewartet?«
Bartholomew setzte sich erschrocken auf und wischte sich die Nase an der Hand ab. »Ach, nichts«, sagte er. »Wir sollten weiter.«
Mr. Jelliby sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Aber Bartholomew wollte nicht angeschaut werden. Er wollte in Ruhe gelassen werden, und wenn diese Dummköpfe ihn schon nicht leiden konnten, dann sollten sie das bitte schön für sich behalten. Er stand auf und stapfte davon.
»Ich habe die Pistolen!«, sagte Mr. Jelliby und eilte ihm nach. »Und einen Hut. Hast du Hunger?«
Bartholomew hatte seit gestern Abend nichts mehr gegessen, aber er sagte nichts. Er lief weiter, die Kapuze tief im Gesicht, den Kopf gesenkt. Er musste sich zwingen, sich nicht umzuschauen, ob der Gentleman ihm folgte. Eine ganze Weile lang setzte er nur einen Fuß vor den anderen, ohne eigentlich zu wissen, wohin er ging. Dann tauchte der Gentleman neben ihm auf, zwei knusprige Pasteten in der Hand. Eine davon gab er Bartholomew.
Bartholomew starrte ihn an.
»Na los«, sagte Mr. Jelliby. »Iss schon!«
Die Pastete war voller Knorpel – wahrscheinlich war sie aus irgendeinem grässlichen Tier von der Straße zubereitet –, aber Bartholomew schlang sie samt Knochen hinunter und leckte sich dann das Fett von den Fingern. Mr. Jelliby brach von seiner Pastete die Kruste ab und reichte Bartholomew den Rest. Auch das aß er. Dabei musste er an die Wachstropfensuppe denken
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