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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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nach irgendetwas. Und da war jemand hinter mir… er stand da… und starrte mir nach.«
    Mr.   Jelliby schaute zur Wand hinüber. Da ist nichts. Er stand auf und wandte der Dame den Rücken zu. »In dem Korridor, das war ich«, sagte er. »In Nonsuch House. Das war nicht der Mond.« Von ihrem Verstand war nichts mehr übrig. Sie würde ihm keine Hilfe sein.
    »Ich gehe dann mal«, sagte er zu Dr.   Harrow. »Ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
    Der bärtige Mann deutete eine Verbeugung an. »Nichts zu danken«, sagte er, und in seinen blauen Augen glomm ein merkwürdiges Licht. »Über… haupt… nichts.« Mit einer ausladenden Geste öffnete er die Zellentür und hielt sie Mr.   Jelliby auf.
    Mr.   Jelliby lächelte schwach und ging hinaus. Doch in dem Moment, als er über die Schwelle trat, fuhr er herum und versetzte dem Arzt einen Faustschlag mitten vor die Stirn. Dann stürzte er den Korridor entlang.
    »Junge?«, rief er, stieß den Wachmann beiseite und raste die Treppe hinauf. »Junge, mach, dass du hier rauskommst!«
    Dr.   Harrows Lippen: Sie hatten sich nicht bewegt.

FÜNFZEHNTES KAPITEL

    Feenmarkt
    Bartholomew meinte, in den Tiefen des Gebäudes etwas zu hören, ein leises Dröhnen, dessen Schwingungen von den Wasserleitungen und Wänden übertragen wurden. Er schaute zu dem mürrischen Sekretär hinüber, doch der war damit beschäftigt, auf seine Schreibmaschine einzuhämmern. Offenbar hatte er nichts bemerkt.
    Das Geräusch wurde lauter. Bartholomew konnte es sogar über das Klappern der Tasten hinweg hören. Ein schweres Scheppern, als wäre eine Metalltür ins Schloss gefallen. Dann irgendwo eilige Schritte. Rufe. Irgendjemand schrie aus Leibeskräften, aber Bartholomew konnte die Worte nicht verstehen.
    Die Finger des Sekretärs erstarrten, schwebten über der Schreibmaschine in der Luft. Er blickte unvermittelt auf, und seine schwarzen Augenbrauen sträubten sich.
    Die Schreie kamen näher. Bartholomew wagte es nicht, sich zu bewegen, aber er spitzte die Ohren und versuchte zu verstehen, was da gerufen wurde. Nur noch ein Stück näher…
    Bartholomew und der Sekretär verstanden die Worte im selben Moment. »Lauf, Junge!«, schrie Mr.   Jelliby. »Nichts wie weg!«
    Der Sekretär sprang auf. Papierstapel wirbelten durch die Luft, während er über den Tisch hechtete, doch Bartholomew war schneller – er rannte zur Tür hinaus und knallte sie hinter sich zu. Gerade in dem Moment, als Mr.   Jelliby mit verstörtem Blick aus dem Treppenhaus gestolpert kam, drehte er sich um.
    »Lauf auf die Straße! Wir treffen uns draußen!«
    Der Korridor im Polizeirevier war mit Dutzenden von Türen aus Nussbaumholz gesäumt, und alle diese Türen schienen gleichzeitig aufzugehen. Dahinter kamen rötliche, neugierige Gesichter und gelockerte Krawatten zum Vorschein. Einige Polizisten stürzten heraus, wobei sie sich mit den Halftern ihrer Waffen abmühten. Mr.   Jelliby rempelte sie beiseite, Bartholomew schlängelte sich unter ihnen hindurch, und bald befanden sie sich beide wieder im Freien und hinkten und humpelten eilig zwischen den Trägern der Eisenbrücke entlang.
    Mr.   Jelliby warf einen Blick über die Schulter. Dr.   Harrow hatte die Treppe vor dem Revier erreicht. Er setzte ruckartig einen Fuß vor den anderen, und aus seiner Nase rann Blut. Hinter ihm drängten sich schreiende Polizisten und starrten verwirrt den fliehenden Gestalten nach. Zwei Polizisten bliesen in ihre Trillerpfeifen und nahmen die Verfolgung auf, aber sie hatten sich bald in der abendlichen Menschenmenge verirrt, während Bartholomew und Mr.   Jelliby immer tiefer in die Stadt hineinliefen.
    Mr.   Jelliby erriet sofort, warum sich die Polizei keine größere Mühe gab, ihn zu fangen. Sie wussten, wer er war. Ein Angehöriger des Staatsrats mit einer Neigung zu Spionage und Gewaltausbrüchen löste sich nicht in Luft auf. Bestimmt schickten sie bereits ein Telegramm mit der Anweisung nach London, die Gendarmerie solle eine Streife zu dem Haus am Belgrave Square schicken und ihn festnehmen, sobald er dort eintraf.
    Aber Mr.   Jelliby hatte nicht vor, nach London zurückzukehren. Noch nicht. Auf dem Fetzen Papier standen zwei weitere Adressen. Zwei Leben, die er möglicherweise retten konnte. Solange sich Ophelia nicht in London aufhält… Er hoffte inständig, dass sie nach Cardiff gefahren war. Wenn sie zu Hause war und die Polizei an der Tür klopfte, würde ihr das Herz

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