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Die Seltsamen (German Edition)

Die Seltsamen (German Edition)

Titel: Die Seltsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bachmann
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Stein gebaut war und allem Anschein nach von den Ästen eines gewaltigen Baumes getragen wurde. Allmählich brach der Abend herein, und überall entlang der Straße leuchteten kleine gelbe Lichter auf und bestäubten die zahllosen alten Gebäude mit goldenen Tröpfchen.
    Bartholomew zog den Umhang fester um sich. Hier war alles so anders als in Old Bath. Alles war ruhiger, und die Schatten waren irgendwie schwärzer. Hin und wieder glaubte er, eine traurige Melodie zu hören, die von der Brise herbeigeweht wurde und wie die Flügel eines Falters über seine Ohren strich. Er stellte sich vor, dass das die Gedanken der Stadt waren, die dem Gehirn entschlüpften und durch die Luft davontanzten. Hier gab es, wie ihm auffiel, auch keine Dampfkreaturen. Keine Straßenbahnen oder Automaten. Keine irgendwie geartete Technologie. Vielleicht war es deshalb so ruhig. Die einzigen Maschinen waren diejenigen, die weit unten in den Bahnhof von New Bath einfuhren und wieder hinaus, und das waren Relikte aus einem vergangenen Zeitalter, als die Regierung versucht hatte, die Feenstadt mit dem übrigen England zu verbinden. Es war die einzige Verbindung zwischen den beiden Welten. Diese Schienen aus Eisen. Nichts sonst.
    Prustend und würgend manövrierte der arme Irrwisch die Rikscha die breite Straße hinauf, vorbei an Türmen und Hütten und Häusern, die an Ketten hingen, bis sie den Rand eines gewaltigen Abgrunds in der Mitte der Stadt erreichten. Es sieht gar nicht aus wie ein Ungeheuer, dachte Bartholomew. Eher wie ein Apfel. Ein großer, schwarzer, fauliger Apfel, dem das Kerngehäuse fehlt. Der Abgrund erstreckte sich von den Gebäuden weit unten bis ganz hinauf zu den Wolken. Laufstege liefen darum herum und führten auf zahllosen Ebenen kreuz und quer darüber hinweg – Brücken und Leitern und Planken, die, knarrend und schwankend, an Seilen hingen. Sie waren von Tausenden kleiner Läden gesäumt, von Buden und Karren, von riesigen Seidenkokons wie jene, aus denen Schmetterlinge schlüpfen, und von bunten Zelten mit flatternden Vordächern. An jedem Pfosten und an jedem Geländer hingen Laternen und verwandelten die Laufstege in leuchtende Bänder.
    »Wir sind da«, keuchte der Irrwisch und sank über der Lenkstange zusammen. »Der Feenmarkt.«
    Mr.   Jelliby zog den Vorhang der Rikscha beiseite, stieg aus und schaute sich staunend um. Bartholomew folgte ihm vorsichtig.
    Sie standen, in einer Höhe von mehreren hundert Metern, am Ende einer gepflasterten Straße. Hier wimmelte es nur so von Feenwesen. Mehr, als er jemals zuvor gesehen hatte. Feen jeglicher Größe und Gestalt, manche klein und blass wie Mrs.   Buddelbinster, andere braun und knorrig wie Mary Cloud, wieder andere ungeheuer groß gewachsen. Es gab laubgrüne und silberfarbene Feen und welche, die aussahen, als bestünden sie ganz aus Nebelschwaden, und anmutige nussfarbene Feen, denen Libellenflügel aus dem Rücken wuchsen. Sie bewegten sich in einem steten Strom über die Laufstege, drehten sich im Kreis und wandten sich nach oben und nach unten. Und trotzdem war es in diesem gewaltigen Abgrund geradezu gespenstisch still. Es lag durchaus ein Geräusch in der Luft, aber es war nicht die Kakophonie aus Geschrei und klappernden Maschinen, welche die Gassen von Old Bath dort unten erfüllte. Es war ein ununterbrochenes Flüstern wie von zahllosen toten Blättern, die gleichzeitig rascheln.
    Mr.   Jelliby warf dem Rikschafahrer eine Münze zu, und er und Bartholomew schritten auf den Markt hinaus. Dutzende schwarzer Augen wandten sich ihnen zu und starrten sie an. Schrille, argwöhnische Stimmen bohrten sich ihnen in den Rücken. Bartholomew hielt sich, mit gesenktem Kopf, dicht hinter Mr.   Jelliby und wünschte, sein Umhang wäre aus Stein und Dornengestrüpp, in das er sich so tief zurückziehen könnte, wie er nur wollte. Aber die Aufmerksamkeit der Feen galt gar nicht ihm. Als er dies bemerkte, zuckte er innerlich zusammen. Die Feen starrten den Gentleman an.
    Mehrere Minuten lang liefen sie die Laufstege hinunter, und an der Art und Weise, wie sein Begleiter das Kinn vorreckte und stur geradeaus schaute, erkannte Bartholomew, dass er nervös wurde. Bartholomew spürte Zorn in sich aufsteigen. Siehst du, so ist es, dachte er bei sich. Keine schöne Erfahrung, was? Es war, als hätten sie ein Stück die Straße hinauf in der Rikscha die Plätze getauscht. Er konnte genau das Gleiche tun wie alle anderen auch, und niemand würde ihn deshalb

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