Die Seltsamen (German Edition)
Metalltreppe hinunter. Am Fuß der Treppe war ein weiterer Korridor, doch dieser war niedrig und hatte eine Gewölbedecke, weißgestrichene Wände und einen grüngefliesten Boden. Massive Eisentüren säumten beide Seiten. Der Geruch von Kernseife war so stark, dass er Mr. Jelliby in der Nase brannte, und doch konnte der Geruch den Gestank schmutziger Menschen und Feenwesen nicht überdecken.
Der Arzt führte ihn zu einer der Türen und bedeutete dem Wachmann, der am hinteren Ende des Flurs saß, sie aufzuschließen.
Sie wurden in einen gänzlich weißen Raum eingelassen. Es gab weder Fenster noch Möbel, mit Ausnahme eines einfachen Holzstuhls, der genau in der Mitte stand. Und darauf saß, dunkel und reglos, die pflaumenfarbene Dame.
Die Handschuhe waren ihr ausgezogen worden, um ihre Fingerabdrücke zu nehmen. Teile ihres Kleides waren abgetrennt worden. Der Hut jedoch war an seinem Platz und verbarg ihre Augen.
»Die Fee, von der sie heimgesucht wird, gehört zur Klasse der Feenegel«, erklärte der Arzt und ging um sie herum. »Ein Parasit. Solche Fälle sind äußerst selten. Normalerweise übernimmt der Parasit das Bewusstsein eines Tieres oder Baumes. Dass er sich auf diese Art und Weise an einen Menschen heftet, ist fast beispiellos. Laut Spense beginnt der Parasit, seinen Wirt, wenn er einmal in ihn eingedrungen ist, langsam zu verzehren. Der Feenegel übernimmt das Gehirn, dringt in Fleisch und Sehnen ein…« Er schob die Locken an ihrem Hinterkopf beiseite. »Nur der Kehlkopf, so heißt es, lässt sich unmöglich kontrollieren. Nehmen Sie sich also in Acht, wenn Sie einer schweigsamen Kuh begegnen.« Der Arzt kicherte über seinen eigenen Witz.
So etwas Hässliches wie das Gesicht unter den Haaren hatte Mr. Jelliby noch nie gesehen. Es war kein Menschengesicht und kaum das einer Fee, mehr ein schlaffes Gemenge aus Zähnen und Tentakeln und runzeliger Haut. Der Mund hing offen. Die Augen waren geschlossen und fast verborgen unter der geschwollenen Wunde, die Bartholomews Pflasterstein der Dame zugefügt hatte.
»Wir haben der Fee ein äußerst starkes Betäubungsmittel verabreicht«, sagte Dr. Harrow und ließ das Haar zurückgleiten. »So wie es aussieht, ist die Dame dem Egel vor mehreren Monaten zum Opfer gefallen. Alles, was er isst oder empfindet, beeinflusst bis zu einem gewissen Grade auch sie. Bestimmt ist sie schläfrig. Ich bezweifle, dass sie in der Lage sein wird, Ihnen etwas Nützliches zu verraten.«
Mr. Jelliby nickte und kniete sich hin, sodass er unter ihren Hut blicken konnte. »Miss?«, sagte er. »Miss, können Sie mich hören?«
Er wartete vergebens auf eine Reaktion. Sie saß nur da, eine dunkle Statue auf einem Stuhl, und regte sich nicht.
Mr. Jelliby schaute über die Schulter zu dem Arzt auf. »Verzehren, haben Sie gesagt? Wird sie das überleben? Kann die Fee nicht irgendwie… entfernt werden?«
»Chirurgisch vielleicht«, erwiderte Dr. Harrow kühl. »Aber ich weiß nicht, ob sie jemals wieder ganz gesund wird, ob ihr Gehirn jemals wieder von allein funktionieren wird oder ihre Arme und Beine ihren Befehlen gehorchen werden. Das ist alles sehr zweifelhaft.«
Mr. Jelliby wandte sich mit ernster Miene wieder der Dame zu. »Melusine?«, sagte er leise.
Dieses Mal flatterten ihre Lider auf. Die Augen darunter schillerten pechschwarz.
Mr. Jelliby holte tief Luft. »Melusine, Sie haben mich um Hilfe gebeten, erinnern Sie sich noch?« Jetzt fiel es ihm plötzlich leicht zu sprechen. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen irgendwie geholfen habe. Jedenfalls hoffe ich, dass Sie hier sicher sind. Aber um ehrlich zu sein, bin ich es, der unbedingt Hilfe benötigt. Erinnern Sie sich an irgendetwas aus den letzten Monaten? Was Sie getan haben? Melusine?«
Sie starrte weiterhin nur geradeaus.
»Es ist wirklich wichtig, dass Sie sich erinnern«, flüsterte er. »Können Sie es nicht wenigstens versuchen?« Hinter ihm runzelte der Arzt die Stirn, die Hand auf einer Alarmglocke. »Irgendetwas! Egal was!«
In ihren Augen regte sich etwas, eine Veränderung hinter der Maske ihres Gesichts. Ihr Mund öffnete sich. Sie seufzte lang und schlaftrunken.
»Da war ein Korridor«, sagte sie so plötzlich, dass Mr. Jelliby zusammenzuckte. »Ein Korridor, der zum Mond führte.«
Aus den Augenwinkeln glaubte Mr. Jelliby, etwas zu sehen. Eine dunkle Masse, die über die weiße Wand wimmelte.
»Ich bin den Korridor entlanggeeilt«, fuhr die Dame fort. »Auf der Suche
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