Die Siechenmagd
unerfüllte Liebe zu trauern. Nachdem sie sich eine Zeit lang dieser schwärmerischen Sehnsucht ergeben hatte, gebot sie sich schließlich selber Einhalt, schalt sich kindisch und närrisch, immerzu einem Kerl nachzuhängen, den sie sowieso niemals Wiedersehen würde. So war es ihr zwar nach und nach gelungen, die unfruchtbaren Tagträumereien endlich zu bannen, eine diffuse, aber hartnäckige Sehnsucht nach Liebesglück war jedoch zurückgeblieben. Zuweilen hatten sie seltsame Träume bis in den Tag hinein verfolgt, mit Figuren, die dem Fuchs, aber auch dem jungen Flugblatthändler ähnelten, dem sie damals auf dem Galgenfest begegnet war. Auch an ihn hatte sie in den ersten Jahren im Verlies häufig denken müssen. Hatte bedauert, ihn nicht mehr wieder getroffen zu haben. Das kurze Zusammensein mit ihm hatte sie sehr beeindruckt, hatte es doch bei der Abdeckertochter die Ahnung eines ganz anderen, faszinierenden Lebens hinterlassen. Aber auch das hatte nicht sein sollen, haderte sie wie so oft über die verschiedenen Lebenswege, die ihr leider versperrt geblieben waren. Stattdessen war sie auf dem Gutleuthof gelandet, bei Neuhaus, diesem hinterhältigen Schurken und hatte ihn, bedrängt und in die Enge getrieben wie ein weidwundes Tier, schließlich totgeschlagen. Wenn sie das nicht getan hätte, säße sie jetzt nicht hier, in diesem modrigen Käfig, hatte sie sich mehr als einmal bewusst gemacht. Andererseits stünde sie dann wahrscheinlich immer noch unter der Fuchtel ihres verhassten Dienstherrn und sie hätte vieles, was ihr von ihrer kurzen Wanderschaft als wertvolle Erfahrung so nachhaltig im Herzen geblieben war, nicht kennen gelernt. Voller Zuneigung hatte sie dabei ihrer Reisegefährten gedacht, deren Bekanntschaft gemacht zu haben sie nach wie vor als glückliche Fügung empfand, und war dadurch wenigstens für kurze Zeit mit sämtlichen Widrigkeiten ihres Lebens versöhnt. Auch ihre Muhme Martha und Katharina Beltz, ihre treue Verbündete vom Gutleuthof, vermittelten sich Mäus innerem Auge stets als Lichtgestalten, die die gottverlassene Finsternis ihres Kerkers um einiges erträglicher machten. Um den Verlust der Tante hatte sie auch bei weitem mehr getrauert als über den Tod ihrer Mutter, die ihr nur so selten echte Herzenswärme entgegengebracht hatte. Ganz anders hingegen empfand sie für den Vater. Sein Besuch bei ihr war der reinste Balsam für Mäus geschundenes Gemüt und sie hatte lange davon gezehrt. In seiner väterlichen Fürsorglichkeit hatte sie wieder den geliebten Vater aus ihren Kindertagen entdeckt, hatte gespürt, wie viel sie ihm bedeutete und war darüber sehr glücklich gewesen. Soviel Hoffnung hatte sie damals noch gehabt!
Doch all diese Hoffnung ist ihr im Laufe der langen Dunkelhaft zunehmend abhanden gekommen, hat sich als bloßer Trugschluss erwiesen, als Irrwisch, von dem sie sich all die Jahre hat narren lassen, wie sie sich mit unendlicher Bitterkeit eingestehen musste. Sie hat unter der sich stetig ausbreitenden Hoffnungslosigkeit entsetzlich gelitten, immer wieder dagegen aufbegehrt, gegen ihr grausames Geschick, bis sie fassungslos erkennen musste, dass sie den Kampf gegen das Verlies verloren hatte. Daraufhin hat sie sich nur noch ihrem Schicksal ergeben und ist von Tag zu Tag mehr in einer bodenlosen Agonie versunken.
Inzwischen weiß sie schon lange nicht mehr, welches Jahr, welcher Monat, welcher Tag es ist dort unten in ihrem dunklen, kalten Grab. Zumeist weiß sie nicht einmal mehr, wer sie selber ist und dämmert in einem stumpfen, schlafartigen Zustand vor sich hin. Nur wenn die Ratten an sie gehen, mit ihren ekelhaften kleinen Schnauzen an ihr schnüffeln, kehrt wieder Leben in sie, und sie verscheucht die Nager mit aller Heftigkeit, die ihr noch geblieben ist, damit ihr nicht das Gleiche passiert, wie dem armen Jockei damals.
Den Jockei, einen kleinen Gauner und Gelegenheitsdieb mit einem frechen Schandmaul, hatten die Büttel bei seiner Verhaftung grün und blau geschlagen und ihn dann ins Loch geworfen, wo er bis zu seiner Befragung bleiben sollte. Wahrscheinlich hatte er kein gutes Heilfleisch, oder es lag an dem ganzen Dreck hier unten, jedenfalls entzündeten sich seine Wunden und begannen zu eitern. Und plötzlich, sie hatte gerade geschlafen, hörte sie seine herzzerreißenden Schmerzensschreie und Hilferufe. Durch den Geruch des Blutes und der eiternden Wunden angelockt, hatten die Ratten begonnen, den geschwächten, schwer verletzten Mann
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