Die Siechenmagd
sie in sich gehe. Das allein sei doch der Gnade genug. Oder ob es dem Hundshäuter denn lieber wäre, wenn man die Jungfer sogleich ihrer verdienten Strafe, dem Ertränken, zuführte. Unmittelbar nach den schlimmen Pestwirren und in Ermangelung eines Züchtigers hätte die Stadt momentan weiß Gott andere Sorgen, als sich um eine Schundmummeistochter zu kümmern. Sicher aufgehoben im Loch, könne sie so doch wenigstens niemandem etwas zu Leide tun. Mit der Zeit werde man dann schon Abhilfe schaffen und das Urteil an ihr vollstrecken lassen.
Edu Dunckel ist darüber tief enttäuscht. Die ganze Angelegenheit hat ihn bisher so viel Geld und Nerven gekostet und doch war alles vergebens, muss er sich niedergeschlagen eingestehen. Was bleibt ihm jetzt noch zu tun? Überdies ist von den ehemals 100 Gulden kaum noch etwas übrig geblieben. Ganze 20 Gulden hat er noch. Für einen Reichen gerade etwas für den hohlen Zahn, für einen armen Teufel aber immer noch viel Geld, denkt er sich und kommt dabei auf einen neue Idee. Gleich darauf macht er sich zum Brückenturm auf und spricht mit dem alten Gefängniswärter. Er bietet ihm die 20 Gulden an, wenn er Mäu bei nächster Gelegenheit, wenn wieder einige Unsinnige entlassen werden, gemeinsam mit den anderen Toren unauffällig auf ein Narrenschiff verfrachtet und mainabwärts treiben lässt. Der Wärter ist über dieses Ansinnen reichlich pikiert und reagiert abweisend. Selbst die verzweifelten Bitten des Abdeckers vermögen ihn nicht umzustimmen, und er bleibt hart. Ob der Abdecker denn nicht verstehen wolle, dass er Kopf und Kragen riskiere, wenn man ihm dabei auf die Schliche käme, äußert er schließlich gereizt und fordert Edu auf, zu gehen. Der Abdecker erkennt, dass er auch jetzt wieder verloren hat. Mit einem Mal wird er sehr ernst und bittet den alten Lochmeister um Verzeihung, ihn derartig belästigt zu haben. Eine Bitte habe er aber noch, sie sei auch überhaupt nicht verfänglich und er möge sie ihm doch nicht abschlagen. Während der Wärter noch zögert, ihn überhaupt weiter anzuhören, drückt ihm Edu den Beutel mit den Münzen in die Hand und legt ihm eindringlich ans Herz, das Geld künftig für die Bestreitung von Mäus Unterhalt zu verwenden. Der Turmaufseher verspricht, sich darum zu kümmern. Der Abdecker tut ihm Leid, und er bietet ihm an, jetzt, wo er schon einmal hier ist, Mäu im Brückenloch aufzusuchen. Doch Edu lehnt das Angebot ab. Er bringt es nicht über sich, seinem Kind vor die Augen zu treten und ihm eingestehen zu müssen, dass er sein Versprechen, Mäu rauszuholen, nicht hat halten können.
Einige Wochen später, nachdem die Abortgruben schon lange nicht mehr geleert worden waren, schickt die Stadt den Stöcker zur Behausung des Abdeckers, um diesen an seine Pflichten zu gemahnen. Der Henkersbüttel findet Edu Dunckel in einer Lache getrockneten Blutes neben seinem Strohsack liegend. Er trägt seine vollständige dunkelgraue Abdeckerskluft, auf dem Kopf den spitzen, roten Hut, was dem Toten seltsamerweise einen fast würdevollen Nimbus verleiht. Mit einer Hand hält er noch sein Abdeckermesser umklammert, mit dem er sich die Kehle durchgeschnitten hat.
21. Lemuren der Dunkelheit
Ein Jahr nach dem anderen vergeht, und Mäu sitzt immer noch im Brückenloch.
Nach dem Besuch ihres Vaters hatte sie noch lange Zeit die Hoffnung, wieder frei zu kommen, gehegt wie einen wertvollen Schatz. Hatte sich selbst in den Phasen dunkelster Verzweiflung immer wieder Mut zugesprochen und an eine Wendung zum Guten geglaubt. Stundenlang hatte sie auf die spärlichen Lichtstrahlen aus der Deckenluke gestarrt und dabei ihr ganzes junges Leben Revue passieren lassen, in Gedanken versunken an die Menschen, die ihr nahe standen, und die wenigen glücklichen Augenblicke mit ihnen. Das hatte ihr zeitweise die Kraft gegeben, den unsäglichen Entbehrungen der Kerkerhaft zu trotzen. Oftmals, wenn ihr die Jämmerlichkeit ihres Daseins bis ins Unerträgliche bewusst geworden war, hatte sie sich überhaupt nur mit Hilfe dieser Erinnerungen wieder aufrichten können. Die einzige ihr vergönnte Liebesnacht hatte sie so lange im Geiste durchlebt, bis die jugendliche Verliebtheit von einst im Vakuum des Kerkers eine merkwürdig verzerrte Bedeutsamkeit erlangte. Immer wieder hatte sie sich ausgemalt, was passiert wäre, wenn alles anders gekommen wäre und sie sich nicht so tragisch aus den Augen verloren hätten, und hatte wieder begonnen, um diese
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