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Die Siechenmagd

Die Siechenmagd

Titel: Die Siechenmagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Neeb
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im Brückenloch sitzt?“, entgegnet der Abdecker erstaunt.
    „Ei, selbstverständlich weiß ich das! Ich hab sie ja damals selbst noch hier runter gebracht“, erwidert der Wärter.
    „Und wissen es auch Eure Kollegen?“, fragt Edu betreten.
    „Die davon gewusst haben, sind jetzt alle tot. Und der Grünschnabel da oben, den sie mir kürzlich vor die Nase gesetzt haben, weiß es nicht und braucht es auch nicht zu wissen. Der hat sowieso von Tuten und Blasen keine Ahnung, war früher Gassenkehrer und Grabenfeger, ham sie mir jetzt aufs Auge gedrückt, damit ich hier nicht ganz allein meine Arbeit tun muss“, erläutert der alte Kerkermeister leutselig. „Ich für mein Teil hab auch nichts dagegen, wenn du da runter gehst und mal nach dem Rechten siehst. Das haben wir früher auch ab und zu mal gemacht, als wir noch mehr Personal hatten. Also, mach’s gut, Schundmummel. Und keine Angst, von mir erfährt keiner was, die zerreißen sich dann doch nur ihre blöden Mäuler darüber“, verabschiedet sich der Lochmeister und wendet sich zum Gehen. Der Abdecker bedankt sich bei ihm, froh darüber, dass es selbst unter den Wachteln noch vernünftige Menschen zu geben scheint, und macht sich bereit für den Abstieg.
    Während er durch die schmale Luke in das Verlies heruntersteigt, ist ihm trotz all seiner guten Absichten doch recht bange zu Mute, und als er schließlich in dem durch seine Fackel nur notdürftig erhellten Kellerverschlag seiner Tochter gewahr wird, erschrickt er zutiefst. Das früher so frische, blühende Geschöpf ist durch die Dunkelhaft zu einer ausgemergelten, erloschenen Kreatur zerfallen. Mäu scheint völlig entkräftet zu sein, ist bis auf die Knochen abgemagert und kaum noch bei sich. Zunächst erkennt sie nicht einmal mehr den Vater, murmelt verworrenes Zeug, als wäre sie nicht bei Sinnen. Edu beugt sich zu ihr herunter und bettet vorsichtig ihren Kopf auf seine Knie, dann holt er die kleine Korbflasche mit Milch unter seinem Abdeckerkittel hervor und gibt ihr sorgsam etwas davon ein. In kleinen, durstigen Schlucken trinkt Mäu nach und nach die ganze Flasche leer, schlingt anschließend wie ein ausgehungertes Tier die mitgebrachten Speisen herunter, ohne dabei auch, nur einen Laut von sich zu geben. Langsam kehren ihre Lebensgeister wieder zurück, sie hebt leicht den Kopf an und blinzelt Edu im Fackelschein mit weit aufgerissenen Augen entgegen.
    „Vadder, bist du’s wirklich, oder bild ich mir das nur ein“, flüstert sie angstvoll.
    Dem Abdecker fehlen vor Ergriffenheit die Worte, und er tut das, was er als Mensch, dem Zärtlichkeit während seines gesamten Lebens eher fremd geblieben ist, nur selten vermochte: Er nimmt seine Tochter einfach in die Arme und drückt sie fest an sich. Mäu weint lauthals, ihre ganze Bedrängnis bricht sich Bahn und sie klammert sich einer Wahnsinnigen gleich an ihm fest, ihn immer wieder anflehend, er möge sie doch hier herausholen. Edu versucht so gut er kann, die Verzweifelte zu trösten und verspricht ihr aufrichtig, sich nach besten Kräften für sie einzusetzen. Während er später seine aufs Schlimmste verwahrloste Tochter behutsam säubert, ihr die verfilzten Haare schneidet und frisches Stroh aufschüttet, beschwört er sie eindringlich, ihren Lebensmut nicht zu verlieren, und zeigt ihr auf seine wenig beredte Art doch deutlich, wie sehr sie ihm am Herzen liegt. Erzählt davon, dass die Pest in Frankfurt gewütet hat und teilt Mäu mit vor Trauer bebender Stimme mit, dass ihre Mutter und auch Martha, die sich so sehr für Mäu eingesetzt habe, daran gestorben sind. Bevor der Abdecker wieder an dem Seil nach oben klettert, streichelt er Mäu noch einmal über den stoppeligen Kopf.
    „Halt durch, Mäus’che, wir holen dich hier raus!“, sind seine letzten Worte, die ihr noch lange im Ohr klingen und ihr mehr Kraft geben, als die reichhaltigste Nahrung es vermocht hätte.
     
     
    Als Edu am Nachmittag auf den verlassenen Abdeckerhof zurückkehrt, weint er hemmungslos, was bei dem abgestumpften Mann äußerst selten vorkommt. Nachdem er noch eine ganze Weile düster vor sich hingebrütet hat, rappelt er sich schließlich wieder auf: Genug geflennt für heut! Jetzt wird überlegt, wie wir das Kind da wieder rauskriegen. Das sind wir ihr schuldig!, ermahnt er sich streng, läuft anschließend stundenlang in der Stube auf und ab und zermartert sich den Kopf. Dann scheint bei ihm endlich der Groschen gefallen zu sein, denn er eilt zielstrebig über

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