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Die Siechenmagd

Die Siechenmagd

Titel: Die Siechenmagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Neeb
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ertönt von allen Seiten begeisterter Applaus, der nicht abebben will. Nachdem sich der Beifall gelegt hat, nippt sie kurz an ihrem Weinbecher und tritt an das Stehpult, das Gottfried inzwischen hereingebracht hat. Ihre Mundwinkel sind nun zu einer Art Katzenlächeln nach oben gebogen, was selten an ihr zu beobachten ist. Sie scheint in sich hineinzugrinsen, und ihre gesamten Züge können ein gewisses, fast schon diebisches Vergnügen, nicht verhehlen. Auf dem Pult liegt ein großer, prachtvoll eingebundener Foliant, den Katharina an einer markierten Stelle aufschlägt. Sie räuspert sich kurz und fängt an, mit melodischer Stimme vorzulesen:
     
    „Hundert Aussätzige, gar missgestaltet, mit zersetztem, über und über weißem Fleisch, waren auf ihren Krücken mit klappernden Ratschen herbeigekommen und umdrängten den Scheiterhaufen, um unter ihren geschwollenen Lidern hervor mit blutunterlaufenen Augen das Schauspiel zu genießen. Yvain, der hässlichste der Kranken, rief dem König mit schriller Stimme zu: ,Du willst dein Weib in diese Glut werfen, o König. Sie hat es wohl verdient, doch währt es nicht lange genug. Das große Feuer wird sie rasch verzehren, der große Wind wird ihre Asche rasch verstreuen. Und wenn die Flamme binnen kurzem in sich zusammenfällt, sind ihre Leiden vorüber. Willst du eine ärgere Strafe hören, bei der sie wohl lebt, doch in großer Schmach und ständiger Sehnsucht nach dem Tod? Willst du, o König?’
    Der König entgegnete: ,Sie mag leben, doch in großer Schmach, die schlimmer ist als der Tod. Wer mir eine solche Strafe nennen kann, soll mir lieb und wert sein.’
    ,So will ich dir denn ohne Umschweife meine Gedanken eröffnen, o König. Siehe, ich habe hier hundert Gefährten. Gib uns Isolde, auf dass wir sie gemeinsam besitzen! Das Leiden schärft unser Begehren. Gib sie deinen Aussätzigen. Keine Dame hat je schlimmer geendet. Siehe, unsere Lumpen kleben an unseren schwärenden Wunden. Sie, die an deiner Seite in kostbar besetzten Gewändern juwelengeschmückt einherging, die in marmorverzierten Sälen gewohnt, edlen Wein getrunken und Ehren und Freuden genossen, wird, wenn sie den Hofstaat ihrer Aussätzigen erblickt, wenn sie in unseren elenden Löchern wohnen und mit uns schlafen muss, ihre Sünden erkennen. Dann wird Isolde die Schöne, Isolde die Blonde nach diesem hell lodernden Scheiterhaufen Verlangen tragen.
    Der König hört ihn an, erhebt sich und steht lange reglos da. Dann tritt er rasch auf die Königin zu und fasst sie bei der Hand. Sie schreit: ,Erbarmen, Herr, verbrennt mich lieber, verbrennt mich!‘ Der König ergreift sie, Yvain nimmt sie, die hundert Kranken umdrängen sie. Sie kreischen und schreien dergestalt, dass alle Herzen in Mitleid hinschmelzen. Yvain aber ist froh. Isolde geht, Yvain führt sie fort. Der schauerliche Zug zieht zur Stadt hinaus.“
     
     
    Als Katharina Beltz geendet hat, ist im gesamten Festsaal kein Laut zu vernehmen. Eisige Stille breitet sich aus, und alle sind wie gelähmt, die Betrunkenen hat jähe Nüchternheit erfasst.
    Bruder Jakob, der frühere Stadtapotheker, springt von seinem Platz auf und eilt zu seiner Gattin, die unbewegt, aber immer noch lächelnd am Lesepult steht. Er schlägt ihr die Seidenhandschuhe, die er beim Aufstehen erfasst hat, mit Wucht ins Gesicht.
    „Geh’ mir aus den Augen, Weib!“, kreischt er ihr mit sich überschlagender Stimme entgegen.
    Nach dem Vortrag der Frau Beltz hat es die Festgesellschaft plötzlich sehr eilig, sich zurückzuziehen. Die ausgelassene Völlerei hat schweigsamer Ernüchterung Platz gemacht, die hektische Genusssucht ist zu allgemeiner Betroffenheit geronnen und hat einen schalen Nachgeschmack und eine gedrückte Stimmung hinterlassen. Katharina Beltz hat sich erhoben und wie eine wandelnde Marmorstatue den Raum verlassen, wort- und grußlos, mit völlig unbeteiligtem Gesichtsausdruck. Ihr Gatte, den Tränen nahe, in kalter Wut, eilt ihr nach.
    Die anderen Kranken versuchen die Form zu wahren, verabschieden sich und danken mit wohlgesetzten Worten dem Gastgeber. Auch er ist wie versteinert nach der von ihm so groß angekündigten „erbaulichen Lektüre“ der Beltzin und hebt die Tafel auf. Mäu und ihre Mutter schicken sich im allgemeinen Aufbruch ebenfalls an, den Nachhauseweg anzutreten. Als sie den dunklen Innenhof überqueren, sehen sie Katharina, die alleine unter einem Baum sitzt. Einem plötzlichen Impuls folgend, läuft Mäu zu ihr hin. Anna protestiert

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