Die Siechenmagd
Herr sei mit euch!“
„Amen. Wir danken Dir, oh Herr, für die schwere Prüfung, die Du uns auferlegst und bitten Dich für unseren neuen Bruder, sein Herz mit Geduld und Stärke zu erfüllen“, antwortet die Tischgesellschaft im Chor. Alle erheben nun ihre Trinkbecher auf das Wohl von Bruder Ulrich.
Im Anschluss daran stemmt sich Schwester Susanna, die Priorin, mühsam von ihrem Stuhl hoch, bekreuzigt sich und eröffnet die fünf Ave-Maria und die fünf Vaterunser, die von den Feldsiechen vor jeder Mahlzeit gebetet werden müssen. Schwester Lioba, die neben ihr sitzt, stützt die Priorin während der nicht unbeträchtlich langen Gebetszeit, weil diese auf der Holzprothese, die unter ihrem rechten Knie befestigt ist, nicht lange ohne fremde Hilfe stehen kann.
Für die Vorbeterin bedeuten diese Gebete, die sie immer stehend vorbringt, eine rechte Qual, der sie sich seit langem in selbst gewählter Buße unterzieht.
In monotonem Singsang werden die Gebete von den Mitbrüdern und -schwestern heruntergeleiert. Die meisten sind in Gedanken bei ihren knurrenden Mägen, die von den hereindringenden Essensgerüchen noch angestachelt werden.
Endlich ist die unliebsame Litanei zu Ende, und Ulrich gibt den Mägden den Wink, die Suppe zu servieren, auf die sich die Tischgäste, bis auf wenige Ausnahmen, gierig stürzen. Die unterschiedlichsten Essgeräusche, die im Festsaal zu vernehmen sind, werden von begeisterten Ausrufen unterbrochen, als der Küchenmeister und seine Beiköche auf silbernen Tabletts schließlich die Gänse und Perlhühner hereintragen.
Gegen Abend, als der Großteil der Festgesellschaft schon betrunken und von der Völlerei ermattet in den Stühlen hängt, trägt Gottfried, der Klingelmann keuchend die Harfe der Frau Beltz herein. Katharina Beltz, die während der gesamten Schlemmerorgie lediglich ein winziges Stück Wildpastete und ein Schälchen Grießbrei mit Honig und Ingwer zu sich genommen und jeglichen Konversationsversuch, der an sie herangetragen wurde, mit einsilbigen Antworten in seine Grenzen zu weisen wusste, nippt an ihrem Weinbecher und lässt sich von einer Magd die Schale mit Lavendelwasser reichen, worin sie sich sorgfältig die Hände wäscht, nachdem sie die eleganten Seidenhandschuhe abgestreift hat.
Ulrich Neuhaus, dessen Gesicht vom reichlichen Weingenuss gerötet ist, erhebt sich daraufhin von der Tafel und klatscht um Aufmerksamkeit heischend in die Hände.
„Liebe Gäste, verehrte Brüder und Schwestern. Die werte Frau Katharina ist gewillt, uns die Gunst zu erweisen, ihrem kunstvollen Spiel lauschen zu dürfen, und im Anschluss daran haben wir noch das Vergnügen, einen kurzweiligen Vortrag zu hören. Ich bitte also um absolute Ruhe, um dieses gebührend zu würdigen“, fordert Neuhaus die Anwesenden mit schwerer Zunge auf. Von einigen Ecken der Tafel ist verhaltenes Gemurre zu hören, auch Kichern und ein gezischtes „Muss das sein?“ sind zu vernehmen. Nach und nach kehrt schließlich Ruhe ein, Frau Katharina erhebt sich und schreitet zu ihrer Harfe, neben der ein Notenständer und ein Holzhocker platziert sind. Sie rückt sich den Hocker zurecht und schlägt ein Notenblatt auf.
„Wertes Publikum! Ich werde euch nun drei Stücke von berühmten Komponisten vorspielen. Einige Passagen davon werde ich mit meinem Gesang untermalen. Das erste Lied entstammt dem Glogauer Liederbuch, es ist aus der Zeit um 1480 und heißt ,Die Katzenpfote‘. Im Anschluss daran werde ich zwei Stücke der beiden großen Komponisten Jacob Obrecht und Oswald von Wolkenstein vortragen. Das eine ist ein lustiges Volkslied und heißt ,Ein fröhlich Wesen‘, das andere ist eher schwermütig und lautet ,Eine dunkle Farbe’. Im Anschluss daran werde ich dann eine Passage aus dem höchsterbaulichen Ritterroman ,Tristan und Isolde‘, des französischen Dichters Berol vortragen.“
Katharina beginnt mit ihrem Spiel, und bereits nach kurzer Zeit sind die Anwesenden in ihren Bann gezogen. Die Harfenklänge verzaubern die Zuhörerschaft und versetzen sie gleichsam in eine andere, bessere Welt. Die wohltönende, klare Altstimme Katharinas berührt selbst die Stumpfesten Gemüter, und manch ein Mitglied der Tischgesellschaft wischt sich gar verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. So kühl und abweisend die Musikantin auch sonst auf ihre Umgebung wirkt, so mitreißend und ergreifend ist sie in ihrem Spiel. Als sie nach geraumer Zeit ihre musikalische Darbietung beendet und sich graziös verneigt,
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