Die Siechenmagd
wäre. Neuhaus äußert seine Zufriedenheit und bittet um einen Becher Malvasier für sich und seine angehende Magd. Der süße, schwere Wein aus Griechenland umnebelt Mäus Kopf auf eine wohlige Art. Es ist das erste Mal, dass sie Wein trinkt. Er schmeckt nicht nur gut, sondern bewirkt auch, dass es ihr angenehm warm und leicht ums Herz wird. Mit geröteten Wangen und glänzenden Augen folgt sie Neuhaus in den Festsaal. Der Schellenknecht und die Mägde sind mit ihren Vorbereitungen fertig, die Weinfässer sind angestochen und die Krüge gefüllt.
„Du kannst nun die Kerzen anzünden und mit deiner Schelle über den Hof gehen und verkünden, dass das Einstandsessen beginnen kann“, beauftragt Neuhaus den Klingelmann.
Ulrich Neuhaus als der Gastgeber nimmt an der Stirnseite der Tafel Platz und fordert Mäu auf, sich an seiner Seite niederzulassen. Die beiden Plätze gegenüber sind dem Hospitalmeister Bruder Thomas und der Priorin Schwester Susanna vorbehalten. Von draußen hört man das Läuten des Schellenknechts. Mit lauter Stimme verkündet er, dass das Einstandsessen, zu dem sich Bruder Ulrich die Ehre gibt, nun eröffnet wird. Alle Brüder und Schwestern, mit und ohne Anhang, seien herzlich dazu eingeladen und möchten doch herbeikommen.
Nach und nach treffen die ersten Gäste ein. Es sind Bruder Johannes, der früher Bettelmönch war, und sein Freund, Bruder Richard, ein früherer Lehrer an der Lateinschule zu St. Leonhard. Die Brüder, die nicht gerade zu den Wohlhabenden auf dem Hofe zählen, gehören bekanntermaßen immer zu den Ersten, die sich einstellen, wenn es etwas umsonst gibt. Mäu erschreckt beim Anblick ihrer verstümmelten Gestalten. Im Gegensatz zu Ulrich Neuhaus sieht man den beiden ihre Erkrankung sofort an. Außerdem riechen sie schlecht, und Mäu, die gewiss nicht besonders empfindlich ist, dreht sich förmlich der Magen um, als die Kranken vor Neuhaus treten und ihn höflichst begrüßen. Neuhaus scheint es ähnlich zu ergehen, denn er weist mit der Hand weit nach hinten an die Längsseite des Tisches, als er die beiden bittet, Platz zu nehmen. Der Raum füllt sich mehr und mehr mit grau gekleideten Kranken, die vom Aussatz unterschiedlich stark gezeichnet sind. Auch Theodor und Anna sind eingetroffen und nehmen an der Längsseite neben Mäu Platz.
Bruder Jakob und seine Gattin Katharina treten ein und werden von Neuhaus eingeladen, sich an seine Seite zu platzieren. Katharina Beltz zieht die bewundernden Blicke der gesamten Tischgesellschaft auf sich. Sie trägt ein scharlachrotes Samtkleid mit einer langen Schleppe, welche sie beim Niedersetzen elegant um ihren Stuhl drapiert. Um die schlanke Taille schmiegt sich ein perlenbestickter Gürtel, an dem eine filigrane Parfümdose, ein prachtvoller Rosenkranz und ein kunstvoll verzierter Besteckkasten befestigt sind. Auf dem Haupt trägt sie eine Hörnerhaube aus fließendem, rotgoldenem Brokat. Die Hände stecken in purpurfarbenen Seidenhandschuhen, die über und über mit Gold und Perlen bestickt sind und einen betörenden Amberduft verströmen. Mäu kann den Blick gar nicht mehr abwenden von der mondänen Erscheinung. Innerhalb der sonst so grauen Schar ist Katharina nicht nur die herausragende Erscheinung schlechthin, ihr glanzvoller Putz erhält durch den Kontrast mit der grauen, maladen Mehrheit allerdings auch eine absurd anmutende Note. Mit abweisenden, verschlossenen Zügen blickt Katharina Beltz starr vor sich hin. Auch als schließlich der Hospitalmeister und die Priorin eintreten und ihre Ehrenplätze einnehmen, folgen ihre Augen für keine Sekunde den Eintretenden.
Die Mägde eilen herbei und füllen die noch leeren Trinkbecher der Tischgesellschaft mit gekühltem Gewürztraminer. Bruder Thomas räuspert sich und setzt zu der Eröffnungsrede an, die vor jedem Einstandsessen vom Hospitalmeister zur offiziellen Begrüßung des neu hinzu gekommenen Kranken auf dem Gutleuthof gehalten wird. Es sind immer die gleichen Worte, die dann in die vorgeschriebenen Tischgebete münden:
„Gottes Wille hat dich ausersehen, Bruder Ulrich, mit uns das schwere Schicksal der Gezeichneten zu teilen. Nicht zu hadern und zu wehklagen über diese Last, ist unsere Bestimmung, sondern den dornigen Weg, den der Herrgott den unsrigen vorgegeben hat, mit Geduld und Demut zu beschreiten, führt er doch dereinst, in seiner grenzenlosen Güte, die von Gott Verfluchten heim ins Himmelreich, auf dass sie zu Kindern des ewigen Lebens werden. Amen. Der
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