Die Signatur des Mörders - Roman
bereits vergessen? Helena Baarova hatte an dem Nachmittag an einem Casting teilgenommen. Über hundert Leute, Künstler, die wir befragen mussten. Einer neurotischer, hysterischer als der andere. Hast du je nur einen Gedanken daran verschwendet, Simon könnte etwas damit zu tun haben?«
Myriam presste die Lippen aufeinander. »Ich muss mir von dir keine Vorwürfe anhören. Hillmer hatte mir, verdammt noch mal, den Fall entzogen. Und ihr beide habt einen Dreck unternommen, um mir zu helfen. Ihr wart doch froh, mich loszuwerden.«
»Ach, du denkst also«, sagte Ron, »du, die allwissende Staatsanwältin, du hättest den Zusammenhang erkannt?« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Lass uns das irgendwann diskutieren, wenn das hier vorbei ist. Du hast gesagt, wir sollen nach jemandem mit medizinischen Kenntnissen suchen. Jemand muss also mit Dr. Sanden sprechen. Himmel, wo treibt sich Henri nur herum?«
»Und jetzt?«
»Wir fahren zur Schule und sprechen mit den beiden.«
»Aber nicht ohne Hannah. Und wir müssen einen Termin mit Simons Vater verabreden. Wir können ihn ja schlecht aus dem OP zerren.«
Ron lenkte um eine Kurve, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen. »Ich dachte immer, du kannst sie nicht ausstehen.«
»Das stimmt, aber ich hasse jeden, bei dem ich das Gefühl habe, er könne mich durchschauen.«
»Keine Sorge, das wird nie jemandem gelingen.«
Es musste Hannah Roosens Sohn sein, Ben, erinnerte sich Myriam. Die langen blonden Haare leuchteten in der Sonne. Er zog den Rucksack auf die Schultern und ging auf ein Fahrrad zu. Es lehnte an einem Kastanienbaum, dessen trockene, abgestorbene Blätter trostlos an den Ästen hingen. Keine Spur von Frühling.
Sie stiegen beide aus. Ron ging auf Ben zu, blieb bei ihm stehen, und sie wechselten einige Worte. Dann lachten sie. Ben warf die Haare zur Seite und stieg auf das Fahrrad. Ron klopfte ihm auf die Schulter. Der Junge hob noch einmal die Hand und fuhr an Myriam vorbei, ohne ihr Beachtung zu schenken.
Sie fühlte den Schmerz noch genauso wie vor Jahren, als sie das Krankenhaus verlassen hatte, um sich in ihrem Bett zu verkriechen. Wie ein Tier, erinnerte sie sich. Ich habe mich einfach in meiner Höhle verkrochen, um alles zu vergessen. Der Mann, mit dem sie diese eine Nacht verbracht hatte, er hatte nie davon erfahren.
Waren diese Jahre wirklich leichter gewesen ohne Kind? Die Vorstellung, sie könnte einen Sohn oder eine Tochter haben, war unheimlich und aufregend. Ein junger Mensch, dem sie so nahe war wie niemandem sonst. Mit dem sie noch einmal erleben könnte, was es an Neuem und Aufregendem im Leben gab.
All die Wünsche, die Begeisterung, die Leidenschaft, die Energie, die Hoffnung, ja, diese Hybris, dass man das Leben meisterte, dass man in keinem Fall dieselben Fehler beging wie die eigenen Eltern.
War diese ständige Suche, diese innere Unruhe wirklich die bessere Alternative? Der tiefgefrorene Schmerz in ihrem Innern? Die Eisschicht, mit der ihre Seele überzogen war?
Verzweiflung war keine Entschuldigung. Nur eine billige Ausrede, dass man das Leben und seine Regeln nicht akzeptierte. Aber das Leben besaß seine eigenen Bedingungen.
Henri hatte ein Recht, es zu erfahren. Sie musste mit ihm reden. Versuchen, es ihm zu erklären. Er wird es verstehen, dachte sie.
Hannah Roosen war wie immer streng, nüchtern und dennoch passend gekleidet. In der weißen, hochgeschlossenen Bluse zu den dunkelblauen Jeans strahlte sie ruhige Gelassenheit aus.
Sie alle waren durch diesen Fall in Panik geraten. In dem Wahn, handeln zu müssen, waren Fehler passiert, anstatt dass sie in Ruhe nachdachten. Natürlich wollte der Täter ihnen etwas erzählen, aber verdammt noch mal, niemand von ihnen hatte die Geduld und die Zeit aufgebracht zuzuhören. Aber gerade Zeit hatten sie nicht!
Sobald Hannah eingestiegen war, sagte sie streng: »Wir müssen genau besprechen, was wir die beiden Jungen fragen wollen.«
»Simons Vater ist Chirurg. Wir müssen wissen, ob sein Sohn Zugang zu chirurgischem Material hat«, erklärte Ron.
»Was genau meinst du damit?«
»Ganz einfach. Nadel und Faden. Wie man sie verwendet, um eine einfache Wunde zu nähen. Ich bin sicher, jeder Arzt hat so etwas in seinem Notfallkoffer.«
»Okay«, erwiderte Hannah Roosen völlig entspannt. »Wie immer willst du also mit der Tür ins Haus fallen? Findest du das klug?«
»Was schlagen Sie vor?«, fragte Myriam, bevor Ron antworten konnte.
»Dass wir uns endlich duzen«, erwiderte
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