Die Signatur des Mörders - Roman
Gedanken zurückkehren zu dem Punkt, als ER ihn aufgefordert hatte mitzukommen.
ER hatte die ganze Zeit kein Wort gesprochen. Nicht ein einziges. Keine Frage, keine Bitte, keinen Befehl.
Paul erinnerte sich, gefragt zu haben: »Sind wir auf dem richtigen Weg?«
ER wandte ihm im Licht der Fackel sein bleiches, sanftes, trauriges Gesicht zu. Seine Augen schwiegen. Ob sie auf dem richtigen Weg waren, schien ihm völlig gleichgültig.
Paul hatte sein ganzes Leben damit verbracht, sich gegen die Lust zu wehren, es zu beenden. Nun sehnte er sich danach, dass ein anderer es tat.
Er war die Mauerassel, die unter einem alten Stein lag und hoffte, dass einer ihn heben möge, um ihn zu erschlagen. Immerfort dachte er an den Tod und starb doch nicht.
War er eingeschlafen? Bildete er sich ein, dass die vierte Wand für einen Moment tatsächlich verschwunden war?
Er richtete sich auf. Registrierte den harten Boden unter seinen Knien.Tastete sich nach vorne. Seine Hand stieß gegen etwas. Etwas Feuchtes lief über seine Finger. Ohne zu überlegen, begann er es aufzulecken, solange es noch nicht versickert war. Der Boden unter ihm schien von jetzt an Teil seines Körpers zu sein.
Er bemerkte nicht, dass er urinierte.
36
Ron hatte den Wagen etwa dreißig Meter von Sandens Haus entfernt geparkt. Sie fuhren nicht los, ohne sich mit einem vergeblichen Anruf ein weiteres Mal zu vergewissern, dass Henri tatsächlich nicht erreichbar war. Sie konnten nur hoffen, dass er bald die unzähligen Nachrichten abhören würde, die sie auf seinem Handy hinterlassen hatten.
»Was ist mit ihm los? Sag es mir«, fragte Myriam resigniert.
»Das fragst du mich?«, lachte Ron auf. »Das müsste ich dich fragen.«
»Du kennst ihn besser.«
»Aber glaube mir, so …«, er hielt kurz inne, »intim wie du war ich nie mit ihm. Wir haben eine Männerfreundschaft, aber er vertraut mir nicht sein Innerstes an.«
»Mir auch nicht.«
Ron warf ihr einen langen Blick zu. »Du kapierst es nicht, oder?«
»Was?«
»Mann, er macht sich Vorwürfe. Er gibt sich die Schuld am Selbstmord von Milan Hus.«
»Er ist nicht dafür verantwortlich.«
»Aber du hast ihn beschuldigt, obwohl deine Vermutung, Hus sei unschuldig, auf demselben Prinzip beruhte wie die Henris. Euer Gerede über Menschenkenntnis, Intuition und … Bauchgefühl!«
Wie hätte sie wissen können, dass die Ereignisse sich in dieser Art und Weise entwickeln würden - aber irgendwie war es auch bezeichnend, sowohl für ihre Ahnungslosigkeit als auch für ihre Überheblichkeit. Wie oft war es bereits vorgekommen, dass sie die Reichweite von Dingen und Geschehnissen erst begriff, als es schon zu spät war. Hatte sie etwas daraus gelernt? Offensichtlich nicht. Und so blieb auch jetzt nur noch das nackte Handlungsgerüst übrig, dieser enge Spielraum, in dem sie nur noch Entscheidungen treffen konnten, die nicht mehr bedeuteten als Schadensbegrenzung.
»Wir haben also nichts«, sagte sie, »außer dieser einen Spur.«
»Simon ist der Einzige«, erklärte Ron, »von dem wir wissen, dass er Zugang zu medizinischem Material hat. In Veits Gutachten steht deutlich: Die Stiche konnten nur von jemandem ausgeführt werden, der etwas davon versteht, der weiß, wie er die Nadel ansetzen muss.«
»Meinst du, Simons Vater hat ihn schon als Säugling mitgenommen, damit er zusieht, wie man einen Blinddarm entfernt?«
»Vielleicht besitzt er auch Bücher, in denen genau beschrieben wird, wie man eine Wunde näht? Außerdem hast du ja gehört, was Frau Kramer gesagt hat. Er interessiert sich für Medizin, seit sie denken kann.«
»Aber er ist erst fünfzehn«, beharrte Myriam.
»Sei nicht naiv. Alles ist möglich. Wir leben im Zeitalter von Second Life. Heute stellt für viele Jugendliche die Fantasie die einzige Realität dar, in der es sich zu leben lohnt. Im Grunde ist es eine verlorene Generation.«
»Second Life?«, fragte Myriam.
»Siehst du«, erwiderte Ron und machte eine ausladende Handbewegung, die die friedlich in der Nachmittagssonne liegenden Häuser umfasste. Der Frühlingsmorgen hatte wider Erwarten sein Versprechen gehalten. »Nichts ist so harmlos, wie es scheint. Hinter jeder dieser Türen lauert vielleicht ein Abgrund. Das macht es so kompliziert.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet. Was meinst du mit Second Life?«
»Frag das moderne Orakel, das Google heißt. Und ist dir nicht aufgefallen, wie gleichgültig Simons Mutter war, als wir fragten, wo ihr Sohn ist?«
»Er ist
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