Die Signatur des Mörders - Roman
Sie dafür sorgen, dass hier überall Handschuhe bereitliegen und ich sie mir nicht selbst kaufen muss.«
In diesem Moment entschied Myriam: Morgen früh würde sie als Erstes überprüfen, ob Kevin Wagner bereits auf Lebenszeit verbeamtet war, oder ob es eine schnelle Möglichkeit gab, ihn wieder loszuwerden.
4
Davids Laptop stand im Weg. Justin schob ihn beiseite und zündete sich mit zitternder Hand eine Zigarette an. Dann schlug er die Zeitung auf. Milan hatte das Haus ohne ein Wort verlassen. Dies bedeutete den endgültigen Abschied.
To give someone his marching order. Wie hieß das auf Deutsch? Jemandem den Laufpass geben.
Justin hatte immer wieder versucht, mit Milan zu sprechen, doch dieser, sonst gewandt im Reden und jederzeit fähig, die Welt in klare Worte zu fassen, schwieg beharrlich.
Es war die Ruhe vor dem Sturm. Das tiefe Brodeln im Vulkan, kurz vor dem Ausbruch, wenn es in einem bebt, wenn die Gefühle tief im Innern wallen, lediglich zurückgehalten durch die Ahnung einer Katastrophe.
Wann würde es zur Explosion kommen? Bald. Sehr bald.
Justin legte die Zeitung beiseite, griff nach einem Buch und schlug es auf. Montag musste er vor über fünfzig Leuten ein Referat halten.Was sollte er sagen? Wie Haltung bewahren unter Milans kritischen Blicken, die jede Schwäche sofort aufdeckten? Genauso gut könnte dieser ihn unter einem Mikroskop beobachten. Er würde sich wie ein Insekt fühlen. Wie eine Küchenschabe.
Er würde über Kafkas Brief an seinen Vater sprechen und die ganze Zeit nur denken, was ist geschehen? Was passiert? Wann hatten sich Milans Gefühle abgekühlt? Was sollte er tun, bevor Milan ihn aufforderte, das Haus zu verlassen?
Wann das passiert war? Er musste nicht lange überlegen. Seitdem dieser neue Doktorand seine Stelle angetreten hatte. Paul Olivier, Sohn eines Schweizer Professors, dessen angebliche Intelligenz lediglich auf dem Ruf seines Vaters, eines Mathematikprofessors in Genf, beruhte, während Justins eigener Vater, mittelmäßiger Lehrer an einer katholischen Highschool in Philipsburg, New Jersey, die Familie gerade so über Wasser gehalten hatte. Sein Dad hatte ihm nichts vererbt außer einem Hang zu Walt Whitman. Lediglich ein sinnloses Faible für den Wahnsinn von Dichtung.
Konnte dies Zufall sein? Oder lagen die Wohnungsanzeigen absichtlich auf dem Frühstückstisch? Nichts, was Milan tat, geschah ohne eigenes Interesse. Er war kein Mensch der Zufälle. Nein, seine Gedanken, Handlungen und Ideen folgten nur einem Wegweiser, dem Egoismus. Dies war der Stern, nach dem Milan Hus sich richtete. Das war die Wahrheit.
Justin traten die Tränen in die Augen. Es musste ihm nicht peinlich sein. Er war allein. Nicht einmal David befand sich im Haus. Er hatte es gleichzeitig mit seinem Vater verlassen, als wollte er ihm Gelegenheit für einen unbemerkten Rückzug geben. Er konnte also einfach losheulen. Niemand außer ihm selbst wurde Zeuge seiner Erbärmlichkeit.
Justin nahm den letzten Zug, drückte die Zigarette aus, um sich sofort die nächste anzuzünden. Seine zitternde Hand goss sich Kaffee ein. Er sah an seinem Körper hinunter. Die Jeans saßen extrem locker, stellte er fest, ehrlich gesagt wurden sie nur von dem eng geschnallten Gürtel über den Hüftknochen gehalten. Er musste etwas essen. Doch sein Magen rebellierte. Sein Kreislauf streikte. Einzig sein Verstand funktionierte noch, der ihm sagte, dass Schluss war, dass … ja, wenn er seine Würde bewahren wollte, musste er freiwillig gehen, musste er jetzt und hier in dieser verdammten Zeitung eine Wohnung suchen.
Natürlich, er könnte nach Philipsburg zurückkehren. In die Bungalowsiedlung. Gestutzte Rasen vor dem Haus. Endlose sonntägliche Barbecues mit den Familien seiner drei Schwestern. Gespräche über Baseball, saubere Straßen, die direkt in die Leere der Seele ihrer Bewohner führten.
Er könnte auch als Lehrer an der Schule seines Vaters arbeiten. Doch allein schon der Gedanke löste Panikattacken aus. Nein, wie ein Gefangener würde er sich dort fühlen: in dem engen Raum aus Elternhaus, Pflicht, täglichem Gebet - Hunderte gelangweilte Highschool-Schüler nicht zu vergessen. In so einer Umgebung gäbe es für ihn nur zwei Möglichkeiten. Sich entweder einer radikalen Sekte anzuschließen oder in Hungerstreik zu treten.
Die Familie seines Vaters stammte aus Brünn. Die Muttersprache seiner Großeltern war Tschechisch. Diese Sprache verband ihn mit Milan.
Justins Großeltern
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