Die Signatur des Mörders - Roman
mütterlicherseits hatten Frankfurt in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts verlassen. Der Name Goethe-Universität hatte in ihm stets eine Sehnsucht hervorgerufen, vergleichbar mit einem plötzlichen Heißhunger auf Marshmallows, Hamburger oder ein riesiges blutiges T-Bone-Steak. Indem er sich entschied, in Frankfurt zu studieren, wollte er seiner Existenz die Wurzeln zurückgeben.
Justin blätterte die Wohnungsanzeigen durch. Es gab ein Zimmer in Griesheim ohne Küche, aber für nur 250 Euro Miete und 70 Euro Nebenkosten. Die 750 Euro Kaution konnte er gerade noch so zusammenkratzen.
Milan hatte keine Miete verlangt. Jetzt erst verstand Justin den Grund. Es hätte ihm das Recht eingeräumt, hier zu wohnen, und das war das Letzte, was Milan wollte.
Sein Blick blieb an der nächsten Anzeige hängen. Ein Einzimmerappartement im siebten Stock eines Hochhauses mit Balkon. In Niedereschbach. Justin stellte sich vor, auf dem Balkon zu stehen. Er sah sich das Geländer hochklettern und springen. Erneut überkam ihn eine Welle der Verzweiflung, deren Wucht ihm den Atem nahm.
Er musste hier raus. Raus. Raus.
Er schlug so fest mit der Faust auf den Tisch, dass die Tasse umfiel und sich der Kaffee über die Zeitung ergoss. Er sprang auf, riss dabei das Messer mit nach unten, das nur knapp an seinem Knie vorbei zu Boden fiel. Hätte es ihn nur getroffen. Mitten ins Herz.
Einzig der Gedanke an seine Mutter hielt ihn davon ab, sich tatsächlich umzubringen. Das Gefühl, wie sie litt, er würde es noch im Tod spüren. Es würde ihn zu einem Untoten machen, er wäre ein ruheloser Geist in einem Grab auf dem Friedhof in Philipsburg, auf dem sein Vater begraben lag.
Im Schlafzimmer hing noch der Geruch von Milans Rasierwasser. Justin unterdrückte die erneute Angstwelle, die ihn an der Türschwelle traf. Vor gut einem Jahr war er mit nichts als einem Rucksack hier eingezogen. Nur eine Stunde, und er hätte seine Sachen gepackt.
Als nun das Telefon klingelte, schlug sein Herz dennoch schneller.
Milan? Rief er an, um sich zu entschuldigen? Wollte er ihn um Verzeihung bitten? Ihn überreden zu bleiben? Ihm seine Liebe versichern?
Aufgeregt rannte Justin in das Wohnzimmer, um nach dem Telefon zu suchen, bis er sich erinnerte, es mit in die Küche genommen zu haben. Er fühlte das heftige Pochen seines Herzens, während er mit zitternder Hand die Zeitungen beiseitefegte, um das Telefon unter den Wohnungsanzeigen zu finden.
»Ja.« Mein Gott, wie heiser er klang.
Es war nicht Milans Stimme. Es war jemand, den er nicht kannte, weshalb er verwirrt auf Englisch antwortete: »I don’t understand.«
»Bin ich falsch verbunden?«, fragte eine junge, aber energische Stimme am anderen Ende. Ohne eine Antwort abzuwarten, erklärte der Anrufer: »Kevin Wagner. Kriminalpolizei. Ich rufe wegen David Hus an.«
»David?«, wiederholte Justin verwirrt. »Was ist mit David?«
»Ich bin hier bei ihm im Krankenhaus. Er hatte einen schweren Asthmaanfall. Ich wollte seinen Vater sprechen.«
»Der ist nicht da, sondern unterwegs nach Prag.« Justin warf einen kurzen Blick auf die Uhr. »Der Flieger ist gerade in der Luft.«
Am anderen Ende herrschte für einen Moment Stille, dann sagte die Stimme: »David muss diese Nacht zur Beobachtung hier bleiben. Vielleicht können Sie ihm einige Sachen vorbeibringen?«
»Ja, natürlich. Ist … Geht es ihm sehr schlecht?«
»Er hat eine Infusion erhalten. Sein Zustand ist jetzt stabil.«
»Kann ich ihn sprechen?«
»Moment.«
Gemurmel im Hintergrund, bis Justin Davids schwache Stimme erkannte. »David, was ist passiert? Hattest du dein Medikament nicht bei dir? Und warum ruft die Kriminalpolizei hier an?«
»Helena ist tot.«
»Was?«
»Helena ist tot. Sie wurde ermordet und … wir, Simon und ich, wir haben sie gefunden. Sie lag auf dem Boden. Alles war voller Blut.«
Es musste an Davids leierndem Tonfall liegen. Justin verstand kein Wort. »Helena?«
»Ja. Sie hat heute Geburtstag. Sie wird … sollte einundzwanzig werden. Hast du mich verstanden? Helena, sie ist tot. Sie wurde … es war schrecklich.«
Justin hörte, wie es David immer schwerer fiel zu atmen, wie er mit jedem Atemzug gegen den Widerstand kämpfte. Was auch immer geschehen würde … solange Milan nicht hier war, fühlte Justin sich für David verantwortlich.
»Ich mache mich gleich auf den Weg. Was soll ich dir mitbringen?«
»Du weißt schon, Schlafanzug und so weiter.«
»Was ist mit deinen
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