Die Signatur des Mörders - Roman
Fragen des Lebens. Kein Theologe, kein Philosoph, kein Psychologe hat sie besser analysiert als Kafka. Ja, Kafka schaut direkt in uns Menschen hinein, in unsere Seelen, und seziert unsere Ängste. ›Manchmal‹, schreibt er in dem Brief an seinen Vater, ›stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor.‹« Hus ließ das Zitat eine Weile nachwirken, während er zum Rednerpult ging, dort stehen blieb und plötzlich fortfuhr: »Na, wenn das keine Gottesfantasie ist, dann weiß ich auch nicht. Gott springt uns aus diesen Worten direkt ins Gesicht. Wir dürfen gespannt sein, ob Ihr Kommilitone, Herr Brandenburg, zu demselben Ergebnis kommt, falls er die Absicht hat, jemals wieder aufzutauchen. Für heute sage ich wie immer am Schluss: Denken Sie darüber nach!«
Er knipste die schwache Lampe am Pult, an dem er sich kaum aufgehalten hatte, aus.
Es war eine rhetorische Geste, die signalisierte, dass er für heute nichts mehr zu sagen hatte.
Das Klopfen der Studenten setzte sich noch lange fort, als Hus längst den Saal verlassen hatte.
Wenige Minuten nach Beendigung der Vorlesung traf Myriam auf Henri und Ron, die bereits vor dem Büro des Professors warteten.
»Wo wart ihr denn?«, wollte sie wissen.
»Wir haben draußen auf dich gewartet«, erklärte Ron mit einem Seitenblick auf Henri, der wiederum Myriam ignorierte.
»Ich habe die Vorlesung von Milan Hus besucht. Beeindruckender Typ«, fügte sie hinzu. »Genau mein Fall.«
Bevor sie klopfen konnten, öffnete sich die Tür, und ein junger Mann erschien, einen großen Stapel Papiere in der Hand. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und über dem strahlend weißen Hemd eine lilafarbene Krawatte. Erschrocken schaute er ihnen entgegen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Hauptkommissar Henri Liebler. Das ist mein Kollege Ron Fischer sowie Staatsanwältin Myriam Singer.Wir sind mit Professor Hus verabredet.«
Der junge Mann blickte auf seine Armbanduhr. »Der Professor muss gleich hier sein. Seine Vorlesung ist gerade zu Ende.«
Eine Weile standen sie sich unschlüssig gegenüber, bis Ron entschieden einen Schritt nach vorne machte: »Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Oh, entschuldigen Sie. Paul Olivier. Der Assistent des Professors.« Er reichte zuerst Ron, dann Henri und schließlich Myriam die Hand. Die falsche Reihenfolge wurde ihm schnell bewusst.
»Entschuldigen Sie …«, stammelte er.
»Und wobei assistieren Sie ihm?«
Myriam warf Ron einen strengen Blick zu. Manchmal wünschte sie sich, er würde eine Befragung nicht schon zu Beginn durch seine spöttischen oder misstrauischen Kommentare erschweren.
Paul Olivier wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als er, seinen Blick über Myriam hinweg auf das Ende des Flurs gerichtet, erleichtert feststellte: »Da kommt Professor Hus.«
Myriam drehte sich um.
Der Professor eilte mit schnellen Schritten auf sein Büro zu. Hatte er sie noch nicht bemerkt, oder hob er absichtlich nicht den Blick? Jedenfalls schien er völlig in Gedanken versunken.Vielleicht war er das wirklich, vielleicht aber legte er auch bewusst dieses nachdenkliche, fast abwesend zu nennende Verhalten an den Tag. Zumindest schaute er erst auf, als er direkt vor ihnen stand: »Ah«, sagte er, »ich nehme an, die Herrschaften von der Polizei.«
»Myriam Singer, Staatsanwaltschaft.«
Sein Lächeln verunsicherte sie prompt. »Die deutsche Justiz hat offenkundig mehr Geschmack, als ich dachte. Ich vermute, dass man Ihnen gerne Geständnisse macht.«
Er sprach mit ausgeprägtem tschechischen Akzent, betonte konsequent die erste Silbe aller Wörter. Im nächsten Augenblick beugte er sich hinunter, um mit charmantem Lächeln einen Handkuss anzudeuten, eine Geste, die Myriam erneut in Verlegenheit brachte. Doch zeigte dies, dass sie ihm gefiel, und sie beschloss, diesen kleinen Flirt zu genießen. Sie war sich schließlich bewusst, mit welcher Aufmerksamkeit Henri das Geschehen verfolgte. Sollte er ruhig merken, dass ein weitaus attraktiverer Mann sie mit Respekt behandelte.
»Leider«, erwiderte sie, »kommt man mit Charme und Schönheit vor Gericht nicht weit.«
»Ja, und vermutlich sind Sie auch nicht hier, um eine Diskussion über das Schöne und das Hässliche zu führen.«
Ron holte zu einer ungeduldigen Handbewegung aus. »Völlig richtig. Wir sind hier, um über Helena Baarova zu reden.«
Nun trat in Milan Hus’ Augen ein Ausdruck von - nein, nicht Trauer - vielmehr erkannte Myriam in seinem
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