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Die Signatur des Mörders - Roman

Titel: Die Signatur des Mörders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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losließen. Sie spürte es. Solche Fälle gab es nur selten. Sie standen nicht auf der Tagesordnung. Welche Rolle der Literaturprofessor Milan Hus in diesem Drama spielte, war ihr nicht klar. Helena Baarova hatte bei ihm im Haus gewohnt, was darauf schließen ließ, dass er sie besser gekannt hatte als alle, mit denen die Polizei bisher gesprochen hatte.
    Myriam machte sich am liebsten vorher ein Bild von ihrem Gesprächspartner, der Gedanke, seine Vorlesung zu besuchen, kam ihr allerdings reichlich spät. Der Vortrag endete in genau fünfzehn Minuten.
    Ein Blick auf die Informationstafel führte sie in den ersten Stock, wo sie einige Sekunden vor der geschlossenen Tür wartete, hinter der nichts zu hören war. Sie zögerte, ob sie eintreten sollte oder nicht. Sie entschied sich für Ersteres und zog die Tür auf. Die Sorge, hundert Gesichter würden sich zu ihr umdrehen, bestätigte sich nicht. Ihr Erscheinen rief keinerlei Interesse hervor.
    Sie schob sich in die hinterste Bankreihe und richtete sich neugierig auf, um den Mann, der vorne sprach, in Augenschein zu nehmen. Sie schätzte Milan Hus auf Ende vierzig. Die dunklen Haare trug er nach hinten gekämmt. Er sah beeindruckend gut aus. Eine Hand in der Hosentasche, ging er auf und ab, ohne den Blickkontakt zu seinen Zuhörern aufzugeben. Es lag etwas Arrogantes in seiner Haltung wie in seiner Stimme, doch gehörte er zu den Menschen, denen man diese Arroganz zugestand, weil sie eine natürliche Autorität, eine gewisse Nonchalance, wenn nicht sogar Charisma besaßen. Alles in allem bot er das Bild eines Mannes, der es gewohnt war, vor einem großen Publikum zu sprechen, ohne nur den geringsten Zweifel zu hegen, man könne ihm nicht zuhören.
    Myriam war noch nie jemandem begegnet, auf den der Ausdruck Gentleman zutraf. Aber wenn diese Spezies überhaupt existierte, dann war Milan Hus ein würdiger Vertreter. Kurz, sie war durchaus von dem Professor angetan.
    Die Literatur war jedoch nicht gerade ihr Steckenpferd. Sie versuchte sich auf seine Worte zu konzentrieren, doch fiel es ihr schwer, ihnen zu folgen. Die Germanistik war in ihren Augen eines dieser Orchideenfächer, die keinerlei Bedeutung für die wirkliche Lösung von Problemen in der realen Welt besaßen.
    »Man war bisher uneingeschränkt der Auffassung, dass es sich bei Kafkas Brief an den Vater um das eindrucksvolle Zeugnis eines dramatischen Vater-Sohn-Konfliktes handelt. Der Text ist Anklage und Selbstanalyse zugleich. Auf der einen Seite wird der übermächtige, tyrannische Vater angeklagt, auf der anderen Seite die hochneurotische Empfindsamkeit eines hypersensiblen Sohnes, des ewigen Opfers, verteidigt. Kinder - sicher haben Sie alle hier entsprechende Erfahrungen gemacht - sind schließlich immer die Opfer ihrer Eltern.«
    Unterdrücktes Gelächter unter den Zuhörern erklang.
    »Natürlich existieren gute Gründe für diese Interpretation. Doch ebenso viele Argumente zeigen, wie radikal Kafka in diesem Text mit dem Schicksal und dessen wohl bekanntestem Vertreter abrechnete: Gott!« Er machte eine kurze Pause. »Vielleicht werden Sie mir nun widersprechen, Sie hätten in der Sekundärliteratur dazu nichts gefunden, bei dieser Interpretation handele es sich nur um eine fixe Idee meinerseits. Aber...«, Professor Hus schlug mit der Hand gegen die leere Tafel. »Vergessen Sie die Sekundärliteratur. Ich befehle Ihnen, diese in den Müll zu werfen. Verlassen Sie sich stattdessen auf Ihr Gefühl, vertrauen Sie den Tiefen Ihrer Seele. Diese wird Ihnen bestätigen: Wenn wir Kafka für den wohl bedeutendsten Autor der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, ja des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts halten, sollen wir dann wirklich annehmen, dieses Genie würde sich auf ein derart billiges pubertäres Niveau herablassen? Nur um seinen Vaterkonflikt in aller Öffentlichkeit zu verarbeiten? Halten wir Kafka wirklich für einen Autor, der seine Leser emotional erpresst, der auf die Tränendrüse drückt, nur weil er unter einem Ödipuskonflikt litt?«
    Erneut verhaltenes Gelächter im Saal.
    Myriam sah sich um. Die Vorlesung war auffallend gut besucht. Es mochten an die zweihundert Studenten sein. Sie hörten ausnahmslos gespannt zu. Keine Papierflieger sausten durch die Luft, niemand trug die Kopfhörer eines MP3-Players im Ohr, doch - fiel Myriam auf - keiner der Studenten machte Notizen.
    »Nein«, hörte sie Hus, »natürlich handelt es sich auch bei diesem Brief um eine Parabel über die großen

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