Die Signatur des Mörders - Roman
hatte sie kaum verstanden. Hier auf der Straße, da musste man laut schreien, wenn man sich Gehör verschaffen wollte.
»Sie suchen hier eine Tänzerin.« Helena hatte ein Stück Papier aus der Tasche gezogen, eine Zeitungsannonce: Tänzerin gesucht für Nachtbar oder so ähnlich. »Ich bin ausgebildete Tänzerin. Ich habe ein Diplom«, hatte sie erklärt. »Das ist mein Beruf.«
»Tänzerin«, hatte Jess gelacht, »du glaubst, die suchen so eine wie dich? Hier brauchst du kein Diplom! Hier brauchst du Titten! Die hast du nicht und auch keinen Hintern, der den Raum zum Schwingen bringt. Was glaubst du, was du da tanzen sollst? Den sterbenden Schwan?«
Helena hatte geschwiegen, den Tränen nah, und war in das Bahnhofscafé mitgegangen, wo Jess ihr eine Cola ohne Eis bestellt hatte, an der sie eine Stunde lang, den Strohhalm im Mund, genippt hatte.
Und Jess hatte die ganze Zeit an Marlene denken müssen. Sie wäre jetzt genauso alt wie Helena. Und dann hatte es in ihrem Kopf Klick gemacht. Es war wie eine Offenbarung gewesen. So etwas soll es geben, hatte sie damals gedacht, so etwas nannte man Schicksal, Karma, Kismet. Sie hatte Helena die Idee erklärt, und diese hatte sofort akzeptiert. Man konnte sagen, was man wollte: Sie waren das gewesen, was man ein Dreamteam nannte.
Ja, und die Kunden waren gekommen, bereit, das Doppelte für das Besondere zu zahlen. Sie wollten ein Erlebnis haben. Die billige Nummer gab es an jeder Ecke. Sie suchten das Außergewöhnliche. Und sie hatten es ihnen gegeben. Helena machte die Typen mit ihren Auftritten heiß, Jess gab ihnen anschließend, was sie brauchten. So blieb Helena die Unberührbare. Die Männer liebten sie dafür. Jess & Helena, Maria Magdalena & die Jungfrau Maria, die Hure & die Heilige.
Wirklich ein Dreamteam. Wie Siegfried & Roy. Die Magier.
So hatten sie sich eine gemeinsame Stammkundschaft erarbeitet, und noch vor kurzem wäre Jess froh gewesen, ja geradezu stolz, wenn man über sie beide im Internet gesprochen hätte. Mundpropaganda war die beste und vor allem die billigste Werbung.
Und hatte sie nicht immer aufgepasst, wen sie zu Helena schickte? Sie fühlte sich schließlich für sie verantwortlich.
Marlene wäre jetzt genauso alt wie Helena, aber Jess hatte wieder nicht aufgepasst.
Und wenn Helena an diesem Abend einen Termin gehabt hatte, von dem sie nichts wusste? Nein, sie konnte es sich nicht vorstellen, aber Vertrauen war ein zerbrechliches Gefühl und Misstrauen oft ein Schutzschild gegen die Enttäuschung. »Zieh Leine«, sagte sie zu dem Typ mit der Hühnerbrust.
Er wandte sich einfach ab und zog tatsächlich Leine. Manche von ihnen, dachte sie, sind solche Weicheier. Die können sich nicht einmal selbst in die Augen schauen, ohne sich zu fürchten.
Alex überquerte nun die Straße und ging direkt auf das Haus zu, in dem Helena gestorben war. Für einen Moment blieb er auf der anderen Seite stehen und starrte die Fassade an, deren Putz so stark abgeblättert war, dass darunter das Mauerwerk zum Vorschein kam. Er wirkte, als ob er angestrengt über etwas nachdachte, falls sein aufgeweichter Verstand überhaupt noch dazu in der Lage war. Dann wandte er sich nach rechts und verschwand im Hinterhof.
Er hatte der Polizei von dem Mann mit dem Hut erzählt, den aufzusuchen Jess sich nicht entschließen konnte. Warum nicht? Hatte dieser nicht, wie sie, es verdient zu leiden?
15
Myriam gehörte nicht hierher. Nicht nur, weil sie zu alt war, sie stand auch den unzähligen Studenten im Weg, die sich zumeist in Gruppen durch das überfüllte Foyer des Universitätsgebäudes drängten.
Myriam war nicht naiv. Sie wusste natürlich, dass weder Ron noch Henri sie bei dem ersten Gespräch mit Professor Milan Hus dabeihaben wollten. Doch stand es ihr als Staatsanwältin zu, bei der Vernehmung wichtiger Zeugen anwesend zu sein. Andererseits war sie den ganzen Tag noch nicht im Büro gewesen, was ihr vermutlich eine Rüge Hillmers bescheren würde. Nach zwei freien Tagen wollte er heute mit Sicherheit die wichtigsten Fälle des verlängerten Wochenendes besprechen und würde es ihr ankreiden, dass sie nicht vor ihren Akten saß, um sich auf den Bermudaprozess vorzubereiten.
Ungeduldig blickte Myriam auf die Armbanduhr. Die beiden Hauptkommissare ließen sich nicht blicken. Vermutlich waren sie froh, sie los zu sein, und tranken irgendwo einen Espresso ohne die lästige Staatsanwältin.
Helena Baarovas Tod gehörte zu den Fällen, die Myriam nicht
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