Die Signatur des Mörders - Roman
… Die macht einen total an, meinte er. Also, wenn du fragst, was ich will, dann glaube ich …«
Bevor er noch zu Ende kam, brüllte sie ihn bereits an. »Tänzerin?«, schrie sie, und die Trauer um Helena nahm ihr den Atem. »Du kommst zu mir und fragst nach einer Tänzerin? Soll ich dir etwa was vortanzen?« Sie ging ein Stück die Straße entlang und wackelte mit dem Hintern. Einige ihrer Kolleginnen lachten. »Ist es das, was du willst?« Dann drehte sie sich abrupt um, ging auf ihn zu und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf seine knochige Hühnerbrust. »Hängst den ganzen Tag vor der Glotze und wunderst dich, wenn du keinen hochkriegst? Was seid ihr nur für Typen? Braucht Theater, damit sich was tut? Kultur? Kunst?«
Der junge Mann wich erschrocken zurück, hob abwehrend die Hände. »Tut mir leid!«
Was war das? Tränen in den Augen?
»Ach, es tut dir leid! Fängst gleich an zu heulen?« Es brach aus ihr heraus. Zu viel war passiert, an dem sie Schuld hatte. »Tänzerin? Was für’ne Tänzerin? Ich kenn keine Tänzerin. Entweder du machst es mit mir, wie der liebe Gott es uns gelehrt hat. Rein. Raus. Oder lass es einfach, okay? Es gibt keine Extras.«
Immer mehr Leute auf der Straße wurden auf sie aufmerksam. Einige Mädchen hofften, dass ihr das Geschäft durch die Lappen ging. Diese jungen Dinger, die ihr Tag für Tag das Ohr abquatschten von wegen diese armen Männer mit ihrer verdrängten Lust … die nur zu Frauen wie ihnen rannten, weil sie zu Hause nicht bekamen, was sie brauchten. Mann, manche von ihnen fühlten sich doch tatsächlich als Aphrodite und verkauften am Ende - wie Jess - doch nur Sex. Dieser ganze Scheiß von wegen, sie seien Therapeutinnen. Sie seien die Einzigen, die den Männern Verständnis entgegenbrachten.
Jess hatte ihrem Ex so viel Verständnis entgegengebracht, es hatte sie ihre Existenz gekostet. Er hatte ihr Verständnis im Kasino beim Roulette verspielt, und sie hatte sich die Hacken abgelaufen, hatte bei Karstadt an der Kasse gesessen, war abends putzen gegangen, um seine Schulden zu bezahlen und sich und Marlene durchzubringen. Nur damit diese dann an Leukämie starb, weil sie, die Mutter, das Jammern des Kindes ignoriert hatte. Sie war einfach nicht mit ihrer kleinen Tochter zum Arzt gegangen, weil ihr die Zeit fehlte.
Was hatte Helena immer gesagt? Mir doch egal, vor wem ich tanze. Hauptsache, ich kann es. Was unterscheidet sich groß? Ob ich im Theater tanze oder für die Straße.
Als Jess Helena zum ersten Mal begegnet war, hatte sie seit Jahren wieder einmal an Marlene gedacht. Vielleicht hatten die Haare und dieser kindliche Gesichtsausdruck sie an ihre Tochter erinnert. Helena hatte vor der Bar im Regen gestanden und auf die Eingangstür gestarrt. Jess hatte sie beobachtet. Hatte den Blick nicht von ihr lassen können. Ihr war sofort klar geworden, dass diese etwas vorhatte, vor dem sie zurückschreckte, und da Jess diese Bar kannte, wusste, was sich dort Abend für Abend abspielte, war ihr nur ein Gedanke durch den Kopf gegangen: Tu das nicht!
Nicht dass Jess der Typ war, der andere zu retten versuchte. Das Helfersyndrom war ihr gründlich ausgetrieben worden. Andere zu retten, das bedeutete meistens, voll in die Scheiße zu treten, aber so richtig. Es ging sie nichts an, rein gar nichts, dennoch quatschte sie dieses Mädchen in Jeans und Regenmantel an.
»Was willst du dort drinnen?«
Der Blick, den Helena Jess zugeworfen hatte, konnte Steine erweichen. Er war von der Art, dass einem ein Schauer nach dem anderen über den Rücken lief. Und Jess kannte Verzweiflung. Sie wusste, wie diese aussah. Sie kannte die weit aufgerissenen Augen, dieses Zittern der Hände, die Furchen, die die Panik ins Gesicht schrieb.
»Ich suche einen Job«, hatte das Mädchen geantwortet, und dann hatte sie tatsächlich ihre Hand auf die Klinke gelegt.
»Die haben keinen Job für so eine wie dich.«
Das Mädchen hatte nichts gesagt, aber die Klinke losgelassen. Allein schon das verriet Jess, dies war eine, die sich von jedem aufs Glatteis führen ließ. Kein eigener Wille und voller Angst.
»Wenn du jetzt den ersten Schritt über diese Schwelle tust«, hatte sie ihr gesagt, »dann kommst du dort nie wieder raus.«
»Das geht Sie nichts an.«
»Da magst du recht haben, aber ich warne dich trotzdem. Kostenlos. Und wenn du Geld brauchst, warum gehst du nicht putzen? Alles ist besser. Ich weiß, wovon ich spreche.«
»Aber...«
Gott, ihre Stimme war so leise gewesen, Jess
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