Die Signatur des Mörders - Roman
Charakterschwäche, Unbesonnenheit, Nachlässigkeit, oft auch aus bösem Willen töteten, und zu ihren Aufgaben als Staatsanwältin gehörte es, sie zur Verantwortung zu ziehen.
Doch der selbsternannte Richter erweiterte das Spektrum. Er benutzte Mittel, die sich ihrer Vorstellungswelt entzogen und mächtiger waren als alles: die Fantasie und die Imagination.
Aus diesen Gedanken wurde Myriam gerissen, als an der Konstablerwache zwei circa fünfzehnjährige Mädchen zustiegen und sich ihr gegenüber auf die Sitze fallen ließen. Eine von ihnen telefonierte. Sie sprach Botschaften in ein rosa Klapphandy, deren Sinn Myriam nicht entschlüsseln konnte.
»He, Schlampe. Was geht? … Scheiße, nein. Jetzt nicht. In der U2? Nein, nich’, solo. Mit Elli.«
Myriam konnte die schrille Stimme am anderen Ende nicht verstehen.
»Das ist psycho …«, beendete das Mädchen ihr gegenüber den Wortschwall ihrer Gesprächspartnerin. »Geht mir am Arsch vorbei, was dieser Kalaschnikow von sich gibt. Und du bist’ne Schlampe.«
Sie kappte das Gespräch mit einer schnellen Handbewegung, hob die Beine und platzierte die Füße, die in schweren weißen Turnschuhen steckten, neben Myriams Taschen. Ihre halblangen Haare waren schwarz gefärbt, wirkten jedoch im künstlichen Licht der U-Bahn grau, als sei das Mädchen uralt. Dies wirkte zusammen mit der kaputten Jeans, die unterhalb der Hüften hing und unter der das silberne Gummiband des Stringtangas aufblitzte, grotesk. Beide Mädchen trugen breite silberne Nietengürtel, die um ihre Körper geschlungen waren und ihre ganze Persönlichkeit zusammenzuhalten schienen.
»Was kuckst du, Alte?«, fauchte ihr Gegenüber plötzlich, als sie feststellte, wie Myriam sie musterte. »Ziehst mich aus mit deinen Blicken.«
Ihre Freundin brüllte los vor Lachen, während Myriam, um Ignoranz bemüht, unverwandt zum Fenster ins Dunkel hinausschaute.
»Schwule Lesbe oder was?«, hörte sie erneut die aufreizende Stimme des Teenagers. »Hast dich an mir festgefressen oder was?«
»Warum nicht?«, mischte sich die andere ein. »Kann dir doch egal sein, mit wem du’s treibst. Heut’ muss man doch … flexibel sein.«
Keiner der anderen Fahrgäste reagierte. Kein mitleidiger oder neugieriger Blick streifte Myriam. Nicht einmal ein gleichgültiger. Im Gegenteil schlug ihr kalte Ignoranz entgegen, als sie aufsprang und zur Wagontür flüchtete, wo sich ihre zitternden Hände an die Stange klammerten.
Es war ein Irrtum zu glauben, andere Menschen empfänden wie man selbst, zeigten dieselben Gefühle. Reine Illusion. Diese Mädchen zum Beispiel. Sie standen außerhalb ihrer Welt, ihrer Wahrnehmung. Sie handelten nach völlig anderen Prinzipien. Jeder Einzelne hier in der U-Bahn, in der Stadt schuf seinen eigenen Kosmos. Man war naiv, unterlag einer vollkommenen Täuschung, wenn man glaubte, das Gegenüber sei nur ein Spiegel, in dem man sich selbst erkennt. Und Naivität war das Letzte, was man Myriam vorwerfen sollte.
Die U-Bahn war längst am Merianplatz angekommen. Myriam bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass sie aussteigen musste. Sie schob sich ungeduldig an einer einsteigenden Mutter mit einem Kinderwagen vorbei. Dabei blieb sie an einem der Räder hängen. Eine Schraube bohrte sich in ihr Bein, sie spürte den Riss in der Strumpfhose, der sich in Sekundenschnelle bis hoch ans Knie fortsetzte. Sie versuchte sich zu befreien, schob mit aller Kraft die Türen auseinander und sprang hinaus auf den Bahnsteig, wo sie kurz wankte und fürchtete zu fallen. Doch sie schaffte es, das Gleichgewicht zu halten, und presste die Plastiktüte mit der Gesamtausgabe von Kafkas Werken fest an sich.
Der Abend war kühl und der Wind unangenehm. Myriam spürte erneut Kopfschmerzen, als sie in Richtung ihrer Wohnung eilte. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, den Chrysler stehen zu lassen, um sich den Gesetzen der Untergrundbahn auszuliefern?
Sie rannte die Treppe hoch und atmete befreit auf. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Doch das Gefühl der Erleichterung währte nur kurz. Die Stummheit ihrer Wohnung brachte nicht die erhoffte Erholung. Vielmehr flackerte die Unruhe erneut auf.
Noch immer keine Spur von Paul Olivier. Und die Motive von Milan Hus’ Selbstmord blieben im Dunkel seines Bewusstseins.
Sie schleppte sich ins Bad, wo sie mehr als zwanzig Minuten unter der Dusche blieb und das Wasser so heiß einstellte, dass ihre Haut Gefahr lief, Feuer zu fangen. Dann ging sie ins Schlafzimmer, wo
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