Die Signatur des Mörders - Roman
Falke. Er sagte es laut vor sich hin: Du bist der Falke.Vögel faszinierten ihn seit der Kindheit. Drei Eigenschaften zeichneten sie aus: der Schnabel, der scharfe Blick, die Schnelligkeit. Helena und er. Zwei Luftwesen.
Alex hielt nichts davon, Männer und Frauen gleich zu behandeln. Das ging auf den Sex. Da hatte er früher nichts versäumt. Aber heutzutage schienen ihm die Frauen tatsächlich aus der Rippe des Mannes geschaffen. Sie wollten nämlich sein wie diese. Er lachte kurz laut auf.
Die angewiderten Blicke der anderen ignorierte er. War es verrückt, mit sich selbst zu sprechen? Nein, es war das Normalste von der Welt, dass er sich antwortete, wenn etwas in ihm eine Frage stellte, aber das war zu kompliziert. Er blieb kurz stehen und schaute sich um. Die Leute hier, sie alle lebten in Unfreiheit. Und der größte Beweis für ihre Beschränktheit: Sie merkten es nicht einmal. Wieder lachte er.
Er war nicht blöd. Er wusste, was in ihnen vor sich ging. Er wäre ein Supertherapeut. Sie alle könnten zu ihm kommen, und er würde ihnen die Welt erklären. Ihr Legoland. Ihr Minimundus.
In diesem Moment blieb sein Blick an einem schwarzen Hut hängen. Der Besitzer ging vor ihm her Richtung Bahnhofsvorplatz. Alex hatte sein Gesicht nicht gesehen, aber er war sich sicher. Es gab keine Entscheidung, die er zu fällen hatte. Es war Instinkt, dass er sich nach links wandte und ihm folgte. Der Instinkt des Falken.
Alex blieb dicht hinter ihm. Registrierte alle Einzelheiten. Den Hut, den dunklen Mantel, die graue Umhängetasche auf den Schultern. Der Mann beeilte sich, ohne hektisch zu wirken. Er hatte ein Ziel, wusste, wohin er wollte, und genau dieses interessierte Alex.
Er folgte Pan Tau und verschwand wenige Sekunden später mit der Rolltreppe in der U-Bahn.
31
Myriam betrachtete ihr Spiegelbild in der verdreckten Scheibe des U-Bahnwagens. Der Luftdruck einer entgegenkommenden Bahn ließ die Scheiben erzittern. Ihr hatte die Kraft gefehlt, sich ans Steuer zu setzen, um sich im Feierabendverkehr durch die Stadt zu quälen. Es war die Leere, die sie ängstigte, dieses hohle Gefühl im Innern, verursacht durch das Warten. Darauf, dass Ron oder Henri sich meldeten, um ihr neue Erkenntnisse zu berichten oder mitzuteilen, sie hätten Paul Olivier gefunden. Diese Hoffnung war so dünn wie ein Strohhalm. Und wie vermutet, wurden ihre Erwartungen nicht erfüllt. Das Telefon blieb stumm.
Myriam Singer hatte sich tatsächlich eingebildet, das Schlimmste erlebt zu haben. Sie hatte Leichen gesehen, ihre toten Körper angefasst, hatte mit Menschen gesprochen, die das größte Tabu gebrochen hatten, indem sie sich das Recht anmaßten, einen anderen zu töten. Die Verzweiflung, der Hass oder eben das Nichts, die kalte Leere in ihren Augen konnte sie nicht mehr schrecken.
Durch die Begegnung mit dem Verbrechen fühlte sie sich gewappnet fürs Leben, als könnte sie nichts mehr erschüttern, als sei das Immunsystem ihrer Seele abgehärtet, geradezu gestählt für die Zukunft. Warum sonst nannte man sie die »eiserne Lady«? Die Verbrechen der anderen, sie verkörperten ihren Schutzschild. Und die erste Zeit, als sie mit den abscheulichsten Dingen konfrontiert worden war, schien ihr plötzlich die beste Zeit ihres Lebens gewesen zu sein.
Doch was sie jetzt erlebte, war schlimmer, viel schlimmer. Der Fall entwickelte eine gespenstische Dynamik. Diese Taten besaßen eine andere Qualität. Die meisten Täter, nein, alle Täter, die sie bisher erlebt hatte, hatten bewusst ein Tabu gebrochen. Die einen hatten es bereut, andere mit den Schultern gezuckt, die dritten es als reine Notwendigkeit behandelt. Doch nie war sie einem Täter begegnet, der … wie es beschreiben? … der das Töten als künstlerische Ausdrucksform vollzog. Er hatte sich mit Kafka intensiv beschäftigt und war aus der Sprache der Bilder hinübergegangen in die Realität. Er hatte Inszenierungen geschaffen.
Aber sie spürte noch etwas anderes: Jedes Verbrechen erzählt eine Geschichte. Sie mag banal sein oder schaurig. Im Fall der Kafka-Morde lag das Potential des Täters nicht in seiner abartigen menschlichen Psyche, sondern in der Fantasie, die, so Kellermann, unendlich war in ihrem Erfindungsreichtum und ihrer Kreativität. Hier erzählte jemand etwas, das ihrer aller Fantasie überstieg, ihre Vorstellung vom Bösen ins Unermessliche steigerte.
Ab jetzt schien alles möglich. Früher war ihr Bild von Mördern einfach gewesen: Menschen, die aus
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