Die Silberdistel (German Edition)
Obst roch. Nach einem heißen und trockenen Sommer hatten Apfel-, Birnen-und Pflaumenbäume viel zu früh ihr Obst abgeschüttelt, das nun überall auf dem Boden verfaulte. Am Waldrand färbten sich die Holunderbeeren rot, und auf den höhergelegenen, trockenen Wiesen blühte schon das Heidekraut. Viel früher als sonst standdieses Jahr der Herbst und danach sein kälterer Bruder vor der Tür. Auf einmal erschien mir mein Leben genauso dunkel und kalt wie der bevorstehende Winter. Mir schossen die Tränen ins Gesicht. Ich weiß nicht, wie lange ich so auf dem weichen Herbstlaub lag, doch müssen es sicherlich ein paar Stunden gewesen sein. Gedanken rannten wie wilde Kinder durch meinen Kopf, reichten sich kurz die Hände, drehten sich im Kreis, versteckten sich und kamen dann kreischend für einen Augenblick ans Tageslicht.
»So hört doch auf! Geht fort, ihr Gedanken, und laßt mich in Ruhe! Ich will euch nicht! Ich will nur Jerg. Jerg! Jerg …«
Wie eine Wahnsinnige hob ich mein Gesicht zu den kahlen Baumkronen empor und schrie mein Elend aus mir hinaus. Dem Herrgott sei gedankt, daß mich niemand dabei überraschte, denn sonst hätte ich sicherlich mein restliches Dasein bei den armen Irren über dem Berg verbringen müssen! Eingesperrt wie ein Tier, das freilaufend nur Schaden anrichten würde. Doch sehr schnell waren meine Kräfte aufgebraucht, und mein Toben und Schreien verlor an Heftigkeit, bis ich schließlich nur noch stumm dasaß und in die Leere blickte. Endlich war Ruhe in meinem Kopf. Endlich konnte ich wieder tief durchatmen. Ich füllt meine Brust mit gierigen Zügen silbrig-grauer Herbstluft. Erschöpft blieb ich dennoch liegen.
»Marga! Was machst du denn hier? Ist alles in Ordnung?«
Zu Tode erschrocken drehte ich mich um und erschrak gleich ein zweites Mal.
»Marga, was ist denn los? Ich bin’s, Cornelius! Ich hab’ Schreie gehört, hinten auf dem Feld, und bin sofort hergerannt.« Besorgt starrte er mich an.
Ich zwang mich zu einem unbeschwerten Lachen. »Schreie? Nein, vielleicht habe ich zu laut gesungen … Du mußt dich verhört haben. Aber es ist gut, daß wir uns über den Weg laufen, denn ich wäre später selbst bei euch vorbeigekommen. Stell dir vor, ich hab’ eine gute Nachricht für dich … von Jerg!«
Während ich zu erzählen begann, nahm Cornelius meineHände in die seinen. Gierig roch ich die Mischung aus Schafswolle und männlichem Schweiß, die zu mir herüberwehte. Gab es einen aufregenderen Duft als den eines Mannes, der mit einem schweißglänzenden Körper frisch vom Felde kam? Mit Schrecken stellte ich fest, daß meine Knie zu zittern begannen. Vorsichtig löste ich meine Hände von Cornelius’.
Ich wollte mich gerade verabschieden, als Cornelius mich so durchdringend mit dunklen Augen anblickte, daß ich Angst bekam. Was ging hier vor sich? ›Renne so schnell wie der Teufel‹, schoß es mir durch den Kopf. Statt dessen versank ich wie eine Ertrinkende in Cornelius’ Augen. Mir war, als ob meine Füße in dem satten Herbstboden angewurzelt wären und mich nichts lösen konnte. Ich beugte mich Cornelius’ Wärme entgegen wie einem Lagerfeuer in einer kalten Nacht. Und dann lagen wir uns in den Armen. Gierig saugten unsere Münder aneinander, und ich hatte den metallischen Geschmack von Blut auf meinen Lippen. Cornelius’ Hände wanderten unentwegt über meinen ganzen Rücken. »Marga, Marga … du hast mir so gefehlt! Wie habe ich mich nach dir verzehrt«, flüsterte jener Mann in mein Ohr, der stets wie ein Bruder für mich war. Doch auf dem braungefleckten Waldboden war für geschwisterliche Gefühle kein Platz. Ich schloß die Augen und sog den Geruch der Waldfrüchte ein, auf die wir unsere heißen Körper gebettet hatten. Eicheln, Tannenzapfen, Blätter, kleine Zweige und Äste verirrten sich in mein blondes, langes Haar, klebten an meinen Schenkeln. Wie zwei Ertrinkende klammerten wir uns aneinander fest, bis unsere Lust befriedigt war. In meinem Innersten wußte ich, daß das, was ich tat, Unrecht war, doch hielt dieses Wissen mich nicht davon ab, meinen Leib mit meinem Schwager zu teilen. Wäre mir Cornelius einen Tag früher oder einen Tag später über den Weg gelaufen – vermutlich hätte ich ihn freundlich angelächelt und wäre meines Weges gegangen. Doch zu dieser Stunde war ich nicht Herrin meiner Sinne, besessen von der quälenden Angst, für immer allein zubleiben, Jerg nie wiederzusehen, meine Seele und meinen Leib für alle Ewigkeit
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