Die Silberdistel (German Edition)
Augen der meisten Tabener hatte Jerg nicht nur das Recht auf seiner Seite, sondern auch den lieben Gott. Was hätte dieser wohl gegen die Liste der Bauern einzuwenden gehabt, fragten sich die Menschen. Wo sie darin doch gelobt hatten, in Zukunft nur noch dem Kaiser und dem Papst allein zu gehorchen. Und hatte nicht Weiland in einer seiner Predigten verkündet, daß der Mensch nur einem Herrn dienen soll? Was also hätte der liebe Gott dagegen haben können, endlich Brabant und anderen Schmarotzern den Garaus zu machen? Den Zehnten wollten sie ruhig weiterhin zahlen, doch die feinen Herren sollten in Zukunft und für alle Zeit selbst für ihr Wohlergehen sorgen. War es nicht genau das, was Jerg und Dettler immer und immer wieder gesagt hatten?
Wie nun diese Forderungen durchzusetzen waren, wußte keiner so genau, doch wurde heftig darüber gestritten. Würde man auf die Burg hinaufmarschieren und den Verwalter einfach vor die Tür setzen? Würde man ihn in den Turm werfen? Und was würde geschehen, wenn sich ihnen dabei die Soldaten in den Weg stellten? Und was wäre danach? Die Antworten auf diese Fragen wußte niemand, aber das war plötzlich auch nicht mehr wichtig. Sie hatten schließlich Jerg,dem sie blind vertrauten. Wichtig war, daß Jerg die Menschen aufgerufen hatte, sich am alten Friedhof auf dem Hungersberg zu versammeln. Und so beeilte sich ganz Taben, diesem Ruf zu folgen.
Überall rannten Menschen durch die Gassen. Im Haus des Schmieds sammelte sich ein gutes Dutzend Männer, die mit glänzenden Augen die Speere und Spieße in Empfang nahmen, die der Schmied heimlich neben seiner täglichen Arbeit hergestellt hatte. Andere hatten allerlei Gerät, welches als Waffe dienen konnte, von zu Hause mitgebracht und standen in kleineren Gruppen vor der Dorfschenke. Vor dem Haus von Heinrichs Witwe Marianne rotteten sich die Weiber des Dorfes zusammen. Viele hatten ihre Kinder auf dem Arm oder an der Hand. In ihren Augen funkelte es gefährlich, und keiner der Männer hätte es gewagt, die Weiber in die Häuser zu verbannen. Noch wußte niemand, was Jerg vorhatte, doch konnte die Hand eines Weibes in der Not genausogut eine Axt, eine Lanze oder einen Dreschflegel halten wie die eines Mannes! So kam es, daß selbst Käthchen, alt und bucklig, mit einem hölzernen Rechen bewaffnet dastand, als es an der Zeit war, in Richtung des alten Friedhofs aufzubrechen. In ganz Taben gab es kaum ein Haus, dessen Bewohner sich dem Marsch dorthin nicht angeschlossen hatten. Auch Pfarrer Weiland zögerte nicht einen Augenblick, ob er mitkommen solle oder nicht. Er bewaffnete sich zwar nicht mit einer Lanze, dafür kam es ihm in den Sinn, sich um den in Asas Haus zurückgelassenen Find zu kümmern und ihn mitzunehmen. Scheuffele, der Büttel, war glücklicherweise zu Besuch bei seiner Familie in Esslingen und stellte somit keine Gefahr dar. Nicht, daß sich die Tabener an diesem Tage von dem fetten, gefräßigen Alten von ihrem Vorhaben hätten abhalten lassen. Viel eher hätten sie diesen an einen Baum gebunden oder, wenn es sein mußte, bewußtlos geknüppelt. Und noch jemand fehlte: Weder Asa noch Sophie war es in den Sinn gekommen, Lene zu unterrichten. Auch Karl Saamund sein Weib wurden vergessen, denn auch sie waren im Dorf nicht sonderlich wohl gelitten. Die Sämerei warf selbst in schlechten Jahren immer soviel ab, daß die Saams niemals Hunger leiden mußten wie viele andere im Dorf.
Gegen Mittag stand die Sonne schwach am wolkenlosen Himmel, das letzte bißchen Eis war weggeschmolzen, und der silbrige Boden hatte sich wieder in ein matschiges Braun verwandelt. Vor dem alten Friedhof hatten sich Hunderte von Menschen versammelt, und ungeduldiges Brummen zeugte von der Aufbruchstimmung der Versammelten.
Währenddessen waren Jerg und Cornelius, Dettler, Stefan und die beiden anderen hinter den Friedhofsmauern noch in heftige Reden verwickelt. Ein wenig abseits stand Marga und hielt Find so fest umklammert im Arm, als müßte sie einem schweren Unwetter trotzen, dessen Dämonen ihr das Kind jeden Augenblick zu entreißen drohten. Die Nachricht von Asas Verhaftung hatte ihr mehr zugesetzt als alle Aufregungen der letzten Tage zusammen. Hunderte von Schreckensbildern schossen ihr durch den Kopf, sie konnte an nichts anderes mehr denken als an Asas Unversehrtheit. Mochte sie auch noch so sehr um Jergs Sicherheit gebangt haben, mochte sie Stunde um Stunde dafür gebetet haben, daß er keine Sünde begehe, so war sie doch zu
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