Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Ein Tritt in den Rücken warf sie nieder, und sie prallte mit dem Gesicht auf kalten Stein. Jemand zog sie an den Haaren hoch, und dann war da plötzlich ein Kruzifix vor ihren Augen. »Schwör ab!«, keifte eine Stimme. »Ja, schwör ab!«, riefen die anderen. Sie schüttelte wild den Kopf. In ihr brodelte ein Hass, der sie nicht mehr klar denken ließ. Plötzlich hatte sie keine Angst mehr. Sie wusste nur, sie würde sich nicht mit diesem Mördervolk der Christen gemein machen. »Schwör ab!«, dröhnte es in ihren Ohren. Sie richtete sich halb auf. Die Umstehenden wurden still, sie warteten auf die Unterwerfung. Neben sich erkannte sie den Priester der Kirche, der ihr immer noch das Kreuz hinhielt. Er trug ein schwarzes Gewand, schwarz wie eine Krähe, schwarz wie der Tod. Sie sah ihm in die Augen. Triumph spiegelte sich in ihnen. Du wirst diesen Sieg nicht erringen, dachte sie. Und dann, blind vor Wut und Verachtung, spuckte sie auf das Kruzifix.
Sofort spürte sie den Schmerz. Fäuste trafen sie überall, Stiefeltritte, die Menge fiel über sie her wie ein Wolfsrudel. Jemand biss sie in den Schenkel, und sie schrie. Schläge prasselten auf ihren Kopf. Auf ihrer Zunge lag der Geschmack von Blut, in ihren Ohren rauschte es. Irgendwann hörte sie auf, sich zu wehren, hatte keine Kraft mehr, lag nur noch da, zusammengekrümmt wie ein Kind im Mutterleib. Sie würden sie erschlagen, zertreten, würden nicht eher aufhören, als bis sie tot war. Hier, vor dem Altar dieses erbärmlichen Christengottes, würde sie sterben, und es war ihr ganz gleich.
Es war Kiddusch Haschem.
Über Nacht war Ruhe in der Stadt eingekehrt, und mit der Ruhe kam die Ernüchterung. Herzog Ernst, dem der Ausbruch des Pöbels noch am Abend zugetragen worden war, hatte inzwischen Bewaffnete ausgeschickt, um die Bürgerschaft wieder zur Vernunft zu bringen und zu verhindern, dass die Judengemeinde noch vollständig ausgelöscht würde. Schließlich war er der Schutzherr der Münchner Juden. Getobt hatte er ob der Anmaßung und Eigenmächtigkeit seiner Untertanen, hatte mit dem Gedanken gespielt, die Übeltäter zur Rechenschaft zu ziehen. Doch dann beschloss er, die Dinge in Herrgotts Namen so sein zu lassen, wie sie eben waren. Er würde dafür sorgen, dass dieser furchtbare Tag nicht in den Annalen der Stadt auftauchte, dann musste er sich auch für nichts rechtfertigen. Denn auf ihn und seinen Bruder Wilhelm als Landesherrn durfte nicht der Schatten einer Schuld fallen, ihre Namen sollten keinesfalls beschmutzt werden mit solch unschönem Makel …
Ganz früh am nächsten Tag, noch vor der Morgenmesse, öffnete sich das Seitenportal der Peterskirche, und zwei Gestalten traten ein, ein vierschrötiger Mann in festem Lodenumhang und eine rundliche Frau, das Haar züchtig unter einem Kopftuch verborgen. Beide knicksten und bekreuzigten sich. Mit festen Schritten ging die Frau dann auf eine kleine Wandnische zu, in der ein Abbild des heiligen Christophorus hing, wie er das Jesuskind übers Wasser trug. Umständlich zog sie eine dicke gelbe Bienenwachskerze unter ihrem Mantel hervor und stellte sie auf den steinernen Sims. Der Mann hatte derweil Feuerstein, Zunder und Schlagring hervorgeholt, schlug einen Funken und zündete damit die Kerze an. Beide knieten zu einem inbrünstigen Gebet nieder. Sie flehten um die gesunde Rückkehr ihres Sohnes, der vor fünf Wochen ein Floß isarabwärts geführt hatte und der eigentlich längst hätte wieder daheim sein sollen. Sie machten sich Sorgen, denn der Fluss war im Frühjahr besonders gefährlich, seit Fastnacht schäumte er vor Hochwasser und strömte noch schneller als sonst in Richtung Osten. Eine ganze Weile verharrten die beiden in ihrer Andacht, dann standen sie auf.
Der Blick der Frau fiel auf etwas Dunkles, das vor dem Hauptaltar auf dem Boden lag. Ein Haufen Kleider oder Lumpen – wer ließ denn so etwas mitten in der Kirche einfach liegen? Sie schaute genauer hin und erschrak – war da eine Bewegung gewesen? Ein Geräusch?
»Franzl, komm«, raunte sie ihrem Mann zu, »da vorn ist was.«
Dann standen sie voller Entsetzen vor dem Bündel Mensch, das da auf dem Steinboden zusammengekrümmt lag. Als Erstes fasste sich der Mann wieder. Er hockte sich neben Sara und tippte sie vorsichtig an, dann rüttelte er an ihrem Arm. Ein Zucken und Stöhnen.
»Heiliger Gott, Afra«, sagte er leise zu seiner Frau, »das muss eine von den Juden sein, die sie gestern hingemacht haben. Vielleicht ist sie
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