Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
gestürmt, eine Handvoll blutrünstiger Männer, die nichts als Mord und Rachedurst im Herzen trugen. »Wo seid ihr, Judensäcke?«, schrie einer mit heiserer Stimme, »Kommt heraus!«
Sie durchkämmten das Haus, schlugen die wenigen Möbel kurz und klein, steckten alles Wertvolle in Säcke, die sie vorsorglich mitgebracht hatten. Bis sie im ersten Stock auf eine verschlossene Tür stießen. Einer rammte seine Schulter dagegen, das Türblatt barst entzwei, und dann standen sie in Jehudas Schlafkammer. »Rache für Martel!«, brüllte einer.
Der alte Arzt saß auf dem Bett, den Gebetsmantel umgelegt, die Riemen der Armtefillin um den Unterarm geschlungen, auf der Stirn das kleine quadratische Gehäuse der Kopftefillin, wie es der Brauch verlangte. Neben ihm, ihre Hand fest in seiner, saß die treue Jettl. Ruhig und gefasst, geborgen in der Gewissheit ihres Glaubens, sahen die beiden ihren Mördern entgegen.
»Wir sind bis an die Enden der Welt geschleudert worden«, sagte Jehuda laut und deutlich. »Unsere Thora ist in Babylonien und Medien und Griechenland und Ismael wie auch unter den siebzig Völkern jenseits der Flüsse Äthiopiens anzutreffen, dort werdet ihr sie finden. Unser Leib ist in eurer Hand, nicht aber unsere Seele.«
Da rammte ihm einer das Schwert bis zum Heft in den Bauch.
Sara hörte Jettls Schrei, der plötzlich in einem Gurgeln erstarb. Sie kauerte sich in die hinterste Ecke ihres Verstecks, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Die Zeit schien stillzustehen, sie hatte kein Gefühl mehr dafür, wie lange sie schon da hockte. Dann dröhnten Schritte im Hinterhof. Eine Männerstimme sagte laut: »Die Junge fehlt noch! Sucht sie!« Die Schritte kamen näher, immer näher, bis sie dicht neben dem Holzstoß waren. Das Brett wurde weggerissen. »Schau an, wen wir da haben!«, knurrte jemand. Dann fühlte Sara sich am Arm gegriffen und grob herausgezogen. Hände schleuderten sie zu Boden. Sie schrie, hörte nicht mehr auf zu schreien. Sie wartete auf den Schlag oder den Dolchstich, der sie treffen würde, aber stattdessen zerrten die Männer sie unter Gelächter und Witzereißen weiter, auf die Straße hinaus. Dort waren noch andere. Mit Stangen und Spießen trieben sie Sara durch die Gassen, vorbei an Toten, die sie alle kannte, vorbei an der Synagoge, aus der lichterloh die Flammen schlugen. Sie sah ein Kind vor dem Eingang zur Mikwe liegen, mit verdrehten Gliedern, den Schädel eingeschlagen und blutig, und erst als sie vorbei war, dämmerte ihr, dass es Jettls Nichte Judith war. Der junge Rabbi hing mit gespreizten Armen an der Tür des Hospitals, ein grausiges Abbild der Kreuzigung Jesu. In seiner Seite steckte eine abgebrochene Lanze. Der Christenmob johlte und kreischte. Sara stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf. Ihren Schleier hatte sie verloren, ihre Kleider waren zerrissen, das Haar hing ihr wirr um den Kopf. Sie spürte keine Trauer mehr, sondern nur noch Hass, abgrundtiefen, brennenden, glühendheißen Hass.
Dann stand sie vor dem offenen Portal der Peterskirche. Die Männer stießen sie hinein, und sie taumelte über die steinernen Fliesen in die Leere des riesigen Kirchenschiffes. Zum ersten Mal in ihrem Leben befand sie sich in einem christlichen Gotteshaus. Es roch nach Weihrauch, sie kannte den Duft. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse und sah sich um. Das Gebäude war unglaublich hoch, weit und lang. Hier musste Platz für hunderte von Menschen sein! Durch bunte Glasfenster fiel das Sonnenlicht ins Innere, rot und blau und golden. Es sah wunderschön aus, eine Schönheit, die sie als Hohn empfand. Sie bemerkte, dass ihre Verfolger die Waffen draußen gelassen hatten – auch den Christen war es nicht gestattet, bewaffnet ihre Kirche zu betreten. Was hatten sie mit ihr vor?
Dann packte sie einer am Handgelenk und zerrte sie vor den Altar, wo er sie in die Knie zwang. Ein anderer drehte ihren Kopf mit Gewalt nach oben, so dass sie den Gekreuzigten anschauen musste, der über dem Altar hing. »Sieh ihn dir an, unseren Gott, Judenhure«, schrie er, »und erkenne seine Macht!«
Sie keuchte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als hinzusehen, und sie sah einen fast nackten, toten Mann mit blutenden Wunden, den man an ein Kreuz genagelt hatte. Seine Haut war wächsern, totenbleich, und der Kopf hing ihm auf die Brust. Ein bejammernswerter Anblick. »Ihr tut mit uns dasselbe, was mit ihm gemacht wurde«, stieß sie hervor. »Wie er sterben wir für unseren Glauben!«
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