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Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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dass sie ohne ihn nicht weiterleben wollte. Und ich dachte an Onkel Jehuda. Warum nur war er freiwillig in den Tod gegangen? Ich zermarterte mir das Hirn, jeden Tag und jede Nacht, und fand doch nie eine Antwort. Vielleicht hatte er mit seinem Kiddusch Haschem Buße tun wollen dafür, dass er als junger Mann zum Christentum übergelaufen war? Oder hatte er geglaubt, Jettl und mich retten zu können, hatte gehofft, wenn sie ihn umbrachten, würden sie in Haus und Hof nicht weiter suchen? Ob er wohl am Ende froh gewesen war über Jettls Beistand, den Beweis ihrer großen Liebe? Froh darüber, dass er nicht allein sterben musste? Ob er sie als seine Frau mit hinübergenommen hatte, dorthin, wo er jetzt war?
    Ich versuchte, zu beten. Immer wieder. Aber es gelang mir schlecht. Wie konnte ich mich jetzt noch an einen Gott wenden, der dies alles zugelassen hatte? Was war das für ein Gott, der sein Volk so grausam strafte? Genoss er, wie sehr die Menschen seinetwegen litten? Oder sah er gleichgültig zu? Aus welchen Beweggründen ließ er den einen grausam sterben und den anderen leben? Liebte er die Christen mehr als die Juden? Oder konnte er gar nichts ändern an dem, was in der Welt geschah? Vielleicht war er schwach? Ich wusste auf gar nichts mehr eine Antwort. Ich wollte nicht mehr denken, nicht mehr trauern, nicht spüren, nicht essen, nicht trinken.
    Aber die Afra war eine beharrliche und fürsorgliche Pflegerin. Ich glaube, ohne sie wäre ich nicht mehr am Leben. Mit unerschütterlicher Geduld flößte sie mir Wasser ein und Würzwein, Brühen und Suppen, Breie und Muse. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als zu schlucken, erst unter Schmerzen, dann ging es immer besser. Mein Gesicht schwoll ab, die Wunden begannen zu heilen. So vergingen die ersten Wochen.
    Niemand wusste, dass ich im Haus des Flößers lag. Vielleicht hätten sie mich sonst noch herausgezerrt, halbtot wie ich war, und ihr Werk beendet. Und dann hätten sie mich, so wie die anderen, in die hochwasserschäumende Isar geworfen, auf dass ich kein Grab hätte und keinen Platz in der Ewigkeit.

    Nach einiger Zeit war ich so weit wieder hergestellt, dass ich aufstehen und in der Stube umhergehen konnte, wenn auch noch unter Schmerzen. Und ich begann mich zu fragen, wie es denn nun mit mir weitergehen sollte. Ich musste, so schnell es ging, von hier fort, nicht um meinetwillen, mein Leben war mir nicht mehr wichtig. Doch meine Anwesenheit brachte meine beiden Retter in Gefahr, sie musste ich schützen. Sie waren gute Menschen. Immer, wenn mich – auch später noch so oft – der Hass übermannte, konnte ich mir sagen, dass es auch Christen gab, die nicht verderbt und mörderisch waren. Die ein gutes Herz hatten und mitleidig halfen. Und ich freute mich mit Afra und Franz, als irgendwann ein blasser junger Mann durch die Haustür hereinstürmte, dem sie unter Freudentränen um den Hals fielen. Ihr Sohn, der Adam, war wieder da, wegen eines Unfalls verspätet, aber heil an Körper und Geist. An diesem Tag stellte ich fest, dass ich noch lächeln konnte.
    Und ich beschloss, dass ich nun so weit genesen war, um meine Lebensretter zu verlassen. Sie bestürmten mich in ihrem Glück über die Heimkehr ihres Sohnes, doch noch zu bleiben und mich besser zu erholen, fürchteten, ich könnte eine weite Reise nicht durchhalten. »Sag, wohin willst du denn gehen?«, fragten sie.
    Ja, wohin eigentlich? Es gab keinen Ort, an den es mich zog, und es würde niemals mehr einen geben, so glaubte ich damals, an dem ich mich je wieder sicher fühlen könnte. Aber in München bleiben, nach all dem, was gewesen war? Ohne Onkel Jehuda, ohne Jettl? Nein, das war unmöglich, das konnte ich nicht. Zurück nach Köln, schoss es mir durch den Kopf. Meine Eltern wiedersehen, und Jochi, die liebe, gute Jochi! Wie mochte es ihnen inzwischen wohl gehen? Doch dann, noch im selben Augenblick, dachte ich auch an den Mann, mit dem ich immer noch verheiratet war, an Chajim. Und wieder spürte ich diese unbändige, panische Angst in mir hochkriechen, die mir den Atem raubte. Nein, ich wagte es nicht.
    Aber der Wunsch und die Sehnsucht, meine Familie wiederzusehen, wurde schließlich übermächtig und überstieg alle Bedenken. Welches Ziel hätte ich auch sonst haben sollen? Ja, beschloss ich, ich würde nach Köln zurückgehen, unerkannt, heimlich, meine Familie wiedersehen. Bleiben würden wir dort nicht können, aber wir konnten zusammen fortgehen, ohne dass es Chajim erfuhr. Ich hatte

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