Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
gelernt, wie man Kranke heilte, und viele Städte brauchten einen Arzt. Ich würde meine Eltern und Jochi schon durchbringen. Vielleicht würden wir in ein anderes Land ziehen, nach Spanien oder Italien, wie Onkel Jehuda. Dort konnten wir am Ende wieder glücklich sein …
Dieser Gedanke gab mir Kraft und Hoffnung. Sonst hatte ich doch nichts.
Zwei Wochen vor Schawuot brach ich auf, in aller Frühe. Meine Kleider waren nicht mehr brauchbar, also trug ich alte Sachen von Afra – ein leinenes Unterkleid, darüber ein einfaches rehbraunes Gewand mit dunkler Schürze, ein festes Mieder. Meine Haare steckten unter einem hellen Kopftuch, das hinter dem Kopf mit einer Schleife gebunden wurde. Afra lachte, weil ich ihr Kleid weder an Brust noch Hüften ausfüllte, und legte mir fürsorglich noch einen mausfarbenen Wollumhang um. Franz drückte mir verlegen einen Beutelsack mit Brot und Käse in die Hand. Es war ein trauriger Abschied, aber ich spürte auch die Erleichterung, die sie empfanden, mich wieder los zu sein. Ich wünschte ihnen alles Glück der Welt und machte mich auf den Weg.
Kaum war ich ein paar Schritte von meinem sicheren Hafen entfernt, packte mich die Angst mit eiskalten Händen. Ich war davon überzeugt, dass mir der sichere Tod drohte, sobald mich jemand als Jüdin erkannte. Dabei hatten die Münchner längst schon wieder andere Sorgen, an die Juden dachte keiner mehr. Und so früh am Morgen war ohnehin kaum jemand in den Gassen unterwegs. Mit gesenktem Kopf lief ich durch die Stadt und bemühte mich, mein Zittern zu verbergen und niemandem aufzufallen.
Dann stand ich vor Onkel Jehudas Haus. Es war verlassen, die hölzerne Haustür immer noch zersplittert, sämtliche Fenster, die Scheiben hatten, eingeschlagen. Vorsichtig sah ich mich um, dann huschte ich schnell hinein.
Sie hatten alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest gewesen war. Zurückgeblieben waren nur zerschlagenes Mobiliar und beschädigter Hausrat, ein Bild der Zerstörung. In der Arztstube war fast alles gestohlen, womit sie etwas hatten anfangen können, nur ein paar Salbentöpfe lagen zerbrochen auf dem Boden. Und Onkel Jehudas Bücher! Mir traten die Tränen in die Augen. Sie hatten sie zerrissen, aus dem Leder geschlitzt, auf einen Haufen geworfen und in der Zimmerecke angezündet. Jemand hatte wohl rechtzeitig gelöscht, um einen größeren Brand zu vermeiden, aber nichts war mehr davon brauchbar. So viel Wissen, solch ein Schatz, auf immer zerstört. Ich spürte, wie der Hass wiederkam.
Dann zwang ich mich, nach den Leichen zu suchen. Ich wusste, man hatte alle in die reißende Isar geworfen, aber ich musste mich überzeugen. In meines Onkels Schlafkammer stieß ich endlich auf die Spuren des Mordes. Große Flecken auf Bett und Boden, die geronnenes Blut sein mussten, sichtbare Zeugen von Tod und Grauen. Mir wurde schlecht. Ich lehnte mich an die Wand und schloss die Augen. Ich wollte so gern weinen, aber es ging nicht. Irgendwann sprach ich leise das Kaddisch, das jüdische Totengebet, für die beiden Menschen, die ich geliebt hatte: » Jitgadal w’jitkadasch, Sch’meh rabah, b’Alma di hu Atid l’it’chadata – erhoben und geheiligt sei Sein großer Name in der Welt, die Er erneuern wird. Er belebt die Toten und führt sie empor zu ewigem Leben. Er erbaut die Stadt Jeruschalajim und errichtet seinen Tempel auf ihren Höhen … « Das war mein Abschied.
Später trat ich in den Hof hinaus, in den die ersten Strahlen der Morgensonne fielen. Ohne echte Hoffnung spähte ich hinter den Holzstoß, wo ich mich versteckt hatte. Aber zum Glück täuschte ich mich: Niemand hatte die Ledertasche entdeckt, die mir mein Onkel noch kurz vor seinem Tod zugesteckt hatte! Ich kroch in den Spalt und holte sie heraus. In der Tasche fanden sich die wichtigsten ärztlichen Instrumente, ein paar verstöpselte Fläschchen und ein Beutel mit Münzen: rheinische Goldgulden, Kreuzer, Ort, sogar ein paar ausländische Silberstücke. Es war kein Vermögen, aber ein ansehnlicher Betrag, der mir für längere Zeit reichen würde. Und dann war da noch ein Buch, das ich noch nie gesehen hatte. Ich schlug es auf, und auf der ersten Seite schon erkannte ich die Schrift meines Onkels. »Des sorgsamen Artztes heyl bringender Rosengartten« s tand da in großen hebräischen Lettern, »geschriben mit eygner Hand von mir, Jehuda ben Mendel, Medicus zu Mynchen«.
Und endlich konnte ich weinen. Onkel Jehudas kostbarstes Gut, sein Wissen und seine
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