Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
wenn dich jemand erkennt! Ab jetzt musst du wachsam sein, mahnte sie sich selbst. Sonst erfuhr noch Chajim, dass sie hier war – und dann war alles vorbei. Nie wieder würde er sie fortlassen, er würde sie quälen und peinigen bis an ihr Lebensende. Sara spürte, wie sie sich verkrampfte. Auf keinen Fall wollte sie jetzt schon in die Judengasse gehen, es war besser, wenn sie den Einbruch der Dunkelheit abwartete. So lief sie erst einmal ziellos durch die Gegend, entdeckte alte, liebgewordene Dinge wieder, bestaunte Neues und genoss das Wiedersehen mit ihrer Heimatstadt so gut es ging. Vor dem Dom kaufte sie sich bei einer Marktfrau einen Rosinenkuchen und unterhielt sich ein Weilchen mit ihr. Wie schön war es, den vertrauten Dialekt wieder zu hören! Hungrig verspeiste sie ihre Süßigkeit, während sie den Fortschritt am Bau der riesigen Kirche bewunderte: Der Turm war schon wieder ein Stück in die Höhe gewachsen. Die Zeit wurde ihr endlos lang, und ihre Anspannung wuchs. Sie begann, sich unbändig auf das Wiedersehen mit ihrer Familie zu freuen, so unbändig, dass sie es kaum mehr aushielt.
Endlich wurde es dunkel. Sie rückte ihr Kopftuch so zurecht, dass es das Gesicht möglichst weit bedeckte, zog den Zipfel tief in die Stirn und machte sich auf ins Judenviertel. In der Deckung eines Fuhrwerks passierte sie unauffällig das Tor, kurz bevor es ein Wächter zur Sperrstunde schloss. An den Ecken mancher Häuser brannten schon die ersten Feuerpfannen, und sie mied ihren rötlich flackernden Schein. Da – dort vorn sah sie es schon, ihr Elternhaus. In den Fenstern war Licht. Sie musste sich beherrschen, um nicht zu rennen. Und dann stand sie vor der Tür, atemlos vor Erwartung. Schon hatte sie die Hand gehoben, um anzuklopfen, da hielt sie inne.
Etwas stimmte nicht.
Die Mesusa! Die Mesusa fehlte! Jemand hatte sie aus dem Türstock gebrochen. Sara ließ die Hand sinken. Sie ging zum Fenster und spähte vorsichtig in die Stube. Drinnen sah alles anders aus. Die Möbel. Die Lampe. An der Wand war kein Spruch mehr, der auf die Himmelsrichtung hinwies, in der Jerusalem lag. Das eiserne Gestell war weg, über dem immer Vaters Gebetsmantel hing. Auf dem Regal für die Menora standen irdene Teller und Krüge. Und dann ging die Tür auf, und eine fremde Frau kam herein, jung, hellhaarig, einen Napf mit Nüssen in der Hand. An ihrem Rock hielt sich ein halbnackter kleiner Junge fest, dessen Windel gerade aufging und ihm schon in den Knien hing. Die Frau stellte die Nüsse auf den Tisch und rief nach ihrem Mann.
Sara schwindelte. Im Haus ihrer Eltern lebten fremde Leute. Christen. Sie hatte den weiten Weg umsonst gemacht! Langsam drehte sie sich vom Fenster weg und lief ein Stück die Gasse entlang. Sie fühlte sich unendlich verloren. Waren sie tot? Weggezogen? Was war geschehen? Wen konnte sie nur fragen? In Gedanken ging sie die Menschen durch, die sie hier kannte. Der Rabbi! Doch würde sie der nicht zu Chajim zurückschicken? Nein, zum Rabbi konnte sie nicht. Salos Eltern? Eine ihrer früheren Freundinnen? Rechla! Ihre alte Lehrerin in der Hekdesch hatte sie damals nicht verraten. Sie würde ihr weiterhelfen!
Rechla werkelte beim Schein einer Talgfunzel in ihrem Schuppen herum, wo sie Kräutersträuße, fertige Arzneimischungen und Tinkturen aufbewahrte. Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Diese verfluchten Ratten! Sie kamen zur Zeit in Scharen vom Fluss und suchten nach Fressbarem. Gestern waren die elenden Viecher schon an ihrem Salbenfett gewesen. Mit der Lampe und dem Kräuterkorb in der Hand ging sie nach draußen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Doch keine Ratten – es war eine Frau, die in der Dunkelheit auf sie zukam. Sie hob das Licht hoch und kniff die Augen zusammen.
»Rechla?«, sagte die Frau und streifte das Kopftuch nach hinten.
Und dann erkannte sie ihre alte Schülerin aus dem Hekdesch.
»Es war Chajim«, sagte Rechla später, als sie gemeinsam am Tisch saßen. »Ein halbes Jahr, nachdem du fort warst, starb sein Vater, und sie haben ihn als seinen Nachfolger zum Barnoss gewählt. Er hat sofort dafür gesorgt, dass jemand anders als Schammes bestallt wurde. Und dafür, dass niemand deinem Vater eine andere Arbeit angeboten hat. Da sind sie fortgegangen, deine Eltern und Jochebed.«
»Weißt du, wohin?«, fragte Sara hoffnungsvoll.
Die Alte schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das wussten sie selber nicht«, erwiderte sie.
Sara schluckte den Kloß in ihrem Hals
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