Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Fässer, zog sich von dort auf ein Mäuerchen hoch und sprang auf der anderen Seite hinunter. Sie hörte einen unterdrückten Schmerzensschrei, und dann war sie auch schon von den Verfolgern des Jungen umringt. »Wo ist er hin, der elende Bankert?«, keuchte der Priester mit hochrotem Kopf. »Den hau ich windelweich! Opferstockmarder, vermaldedeiter!«
Sara brachte es nicht übers Herz, den kleinen Burschen zu verraten. Sie wusste nur zu gut, wozu eine aufgebrachte Menge fähig war. Also schwieg sie fein still, während sich die Leute suchend umsahen und schließlich in die falsche Gasse stürmten. Sobald die Luft rein war, ging sie um ein paar Gebäude herum auf die Rückseite der Mauer, die der Junge übersprungen hatte. Und tatsächlich, da hockte er, in Deckung unter einem Gebüsch, und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das linke Bein. Sie bog einen Ast zur Seite, und der Bub sah sie mit ängstlich aufgerissenen Augen an.
»Keine Angst«, sagte sie, »ich tu dir nichts.« Dann ging sie neben dem Kleinen in die Knie. »Was ist mit deinem Bein?«
»Weiß nicht.« Der Junge schniefte ein bisschen und zog dann lautstark den Rotz hoch. »Bin wohl umgeknickt.«
»Lass mal sehen.« Sara schob die Hose bis zum Knie hoch. Der Knöchel war weder geschwollen noch verfärbt. Vorsichtig betastete sie das Schienbein. Der Bub zuckte zusammen und jammerte: »Au, au, das tut weh!«
»Das glaub ich dir«, erwiderte Sara. »Dein Bein ist wohl gebrochen. Das muss gut geschient werden, und du darfst lange nicht mehr auftreten. Am besten, ich bringe dich zum nächsten Bader.«
Der Junge schüttelte heftig den Kopf. »Dann schnappen sie mich doch, Menschenskind!«
Sara hob die Augenbrauen. »Willst du lieber dein Leben lang hinken?«
»Was soll ich denn machen?«, greinte er.
Sara seufzte. Dann stand sie auf und ging eine Weile suchend umher. Schließlich fand sie eine ellenlange dünne Latte und den abgebrochenen, halbierten Stiel einer Axt.
»Du musst dein Hemd opfern«, sagte sie, und der Junge zog das Kleidungsstück bereitwillig über den Kopf. Sie riss es in lange Streifen und legte sie neben sich ins Gras. »Pass auf, jetzt tut’s weh«, warnte Sara. »Halt dagegen, wenn ich ziehe.« Dann packte sie den Knöchel des Buben und zog, so gut es eben ging, das Bein lang, damit die Knochenenden wieder gerade aufeinander zu liegen kamen. Der Bub schrie auf, dann war es auch schon vorbei. Sie legte die Holzstücke an beiden Seiten des Schienbeins an und band alles gut mit den Hemdstreifen fest. »So, geschafft.« Es würde nicht lange halten, aber für den Augenblick war es gut genug.
Der Junge war kreidebleich im Gesicht, auf seiner Stirn standen winzige Schweißtröpfchen. »Mir ist schlecht«, sagte er.
Sie lächelte. »Das geht allen so. Lehn dich zurück, mach ein bisschen die Augen zu und erhol dich.«
»Bleibst du da?«, fragte er weinerlich.
»Ja«, tröstete sie. »Ich pass auf dich auf, Kleiner.«
Mit gemischten Gefühlen wachte sie eine Zeitlang neben ihrem Patienten. Eigentlich wollte sie längst aus der Stadt sein, und jetzt hatte sie sich dieses kleine Schlitzohr aufgeladen. Sie schalt sich selbst, weil sie so dumm gewesen war. Und doch – sie hatte recht gehandelt. Schließlich war der arme Bursche verletzt und brauchte Hilfe, und sie war Ärztin. Sie würde ihn noch nach Hause bringen und dann hatte sie ihre Pflicht getan. Friedlich sah er aus, im Schlaf, das blonde Haar verstrubbelt, den Mund halb offen, so dass man eine lustige Zahnlücke sehen konnte. Sie musste an Jochi denken und lächelte ein bisschen traurig. Endlich setzte sich eine Mücke auf seine Nase, er zuckte und wachte auf.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte sie.
»Finus.« Ein merkwürdiger Name. Sie prüfte noch einmal seinen Schienverband, dann gab sie ihm einen Klaps auf die Schulter. »Na, dann komm, Finus. Ich bring dich heim zu deinen Eltern. Wo wohnst du denn?«
Er richtete sich auf. »Meine Leute haben ihr Lager vor dem Pantaleonstor. Wir sind Fahrende.«
Jetzt wurde Sara einiges klar. Fahrendes Volk! Man wusste ja, was das für welche waren! Joglare, Schauspieler, Bänkelsänger, Possenreißer, Feuerspucker. Man nahm sie gern auf, weil sie Unterhaltung und Neuigkeiten mit sich brachten, aber kaum waren sie in der Stadt, war es besser, alles Wertvolle in Sicherheit zu schaffen. Jedermann wusste, dass sie diebisch waren wie die Elstern! Tücher verschwanden von der Bleiche, Hühner aus dem Stall, Würste aus dem
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