Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
medizinischen Kenntnisse, sein Vermächtnis! Ich drückte das Buch an meine Brust und ließ meine Tränen auf das dunkelbraune Leder tropfen. Von nun an würde es mein wertvollster Besitz auf der Welt sein.
Eine Stunde später war ich aus der Stadt und schlug den Weg nach Norden ein.
DRITTES BUCH
Die Fahrenden
Köln, Juni 1414
Es war ein trüber, wolkiger Tag, und die Dächer der Dreikönigsstadt glänzten noch vom warmen Sommerniesel. Der Rhein führte Niedrigwasser, breit, grau und träge floss er dahin und schaukelte eine Unzahl von Lastkähnen sanft auf und ab. Wegen des Stapelrechts hatten alle Schiffe ihre Waren in Köln feilzubieten, bevor sie weiterfuhren, ein wichtiger Beitrag zum Wohlstand der Kölner Bürgerschaft.
Einer dieser Lastkähne, der mit Draht, Kupferscheiben und Harnischplatten beladen war, kam nach stundenlangem Warten endlich an die Reihe und legte vor einem der vielen Hebekräne an. Eine Holzplanke wurde von der Reling zur gepflasterten Lände geschoben und mit Ketten festgemacht. Der Schiffer und zwei seiner Bootsknechte gingen an Land, um mit dem städtischen Hafenbeamten die üblichen Formalitäten zu erledigen. Ihnen folgten drei Passagiere, die in Mainz zugestiegen waren, zwei reisende Handwerksburschen und eine junge Frau in einem viel zu warmen mausgrauen Wintermantel, die unsicher über die Planke balancierte.
Sieben Wochen hatte es gedauert, bis Sara endlich den Boden ihrer alten Heimatstadt wieder betrat. Anfangs war sie alleine marschiert, immer auf Nürnberg zu, größere Orte und Menschenmengen meidend. Aber schon bald war ihre Ängstlichkeit einem Hochgefühl gewichen, das sie gar nicht recht beschreiben konnte. Sie ertappte sich immer wieder dabei, dass sie nach dem Judenfleck auf ihrer Brust tastete – doch da war ja keiner! Mit ihren kastanienbraunen Haaren, von denen ein paar Löckchen unter dem Kopftuch vorsprangen, ihren rehbraun gesprenkelten Augen und dem nicht allzu dunklen Teint sah sie aus wie viele Christinnen auch – niemand hätte sie in Afras Kleidern als jüdisch erkannt. Wenn sie etwas zu essen kaufte oder in einer Wirtschaft einen Becher Wein trank, wurde sie von allen Leuten freundlich behandelt. Auch die Bauern nahmen sie bereitwillig auf, wenn sie um eine Übernachtung im Heu bat und dafür ein wenig bei der Arbeit half. Überall fühlte sie sich willkommen. Es war eine Normalität, die ihr unendlich guttat. Schon nach wenigen Tagen schritt sie freier aus, wagte es, sich unterwegs der ein oder anderen Gruppe anzuschließen. Sie sprach nicht viel, weil sie Angst hatte, sich durch irgendeine Bemerkung zu verraten. Aber sie genoss die Gesellschaft der anderen. Und sie stellte fest, dass die Christen, die sonst so leicht dazu neigten, einen Juden zu beleidigen oder zu beschimpfen, meist recht fröhliche Menschen waren. Doch immer, wenn sie anfing, sich unter ihnen allzu wohl zu fühlen, rief sie sich die mörderischen Ungeheuer ins Gedächtnis, die zu München die jüdische Gemeinde ausgelöscht hatten. Dann kamen Angst, Wut und Verbitterung zurück, und sie wanderte wieder eine Zeitlang alleine. Trau ihnen nicht, sagte sie zu sich selbst, sie können sich von einem Augenblick zum anderen in Bestien verwandeln. Wenn sie wüssten, wer du wirklich bist, würden sie nicht einmal ihr Waschwasser aus demselben Brunnen schöpfen, aus dem du trinkst.
Jetzt stand sie am Kölner Hafen, ein Bündel auf dem Rücken und Onkel Jehudas Tasche in der Hand. Alte Erinnerungen stürmten auf Sara ein, sie sah sich selber zusammen mit Salo, wie sie das Treiben beobachteten, nicht offen und fröhlich wie die Christenkinder, sondern von einem Platz hinter hoch aufgestapelten Taurollen aus. Einmal rollte eine Pomeranze bis zu ihrem kleinen Versteck, eine Kiste war heruntergefallen und aufgegangen. Sie hatten das runde gelbe Ding mit großen Augen bewundert, wohl hundert Mal hin und her gedreht und daran geschnuppert, und dann voller Erwartung hineingebissen. Sara lächelte über die kindliche Enttäuschung, die sie damals empfunden hatten, ihr war, als spüre sie den bitteren Geschmack wieder auf der Zunge, genau wie früher.
Eine Kanonade an Schimpfworten riss sie aus ihren Gedanken – sie stand einem mit Stoffballen beladenen Karren im Weg, den zwei Frauen zogen. Erschrocken sprang sie zur Seite, fast wäre sie noch in einer Pfütze gelandet, und das Kopftuch rutschte nach hinten. Hastig band sie es wieder fest und gab sich einen Ruck. Um Gottes willen, dachte sie,
Weitere Kostenlose Bücher