Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
hinunter. »Vielleicht sind sie zurück nach Siegburg, wo ich geboren bin?«, überlegte sie.
»Du kannst es dort versuchen«, meinte Rechla. »Hier in Köln kannst du jedenfalls nicht bleiben, außer du willst zu deinem Mann zurück.«
»Nie im Leben«, fuhr Sara hoch.
Rechla nickte. »Das hab ich mir gedacht. Er sucht dich übrigens immer noch. Anfangs ist er in alle Judengemeinden geritten, die in der Nähe von Köln liegen, um dich zu finden. Und er hat mehr als einmal deine Eltern belästigt, aber sie haben nichts gesagt. Heute noch fragt er jeden Reisenden nach dir, der im Viertel vorbeikommt, ob Händler, Fuhrmann oder Thoraschüler. Der gibt niemals Ruhe.«
»Das hab ich immer gewusst.« Saras Blick wurde hart. »Einer wie er vergisst nie.« Müde strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Rechla legte ihr begütigend die faltige Hand auf den Kopf. »Du bleibst heute Nacht hier«, sagte sie. »Aber morgen solltest du so schnell wie möglich die Stadt verlassen.«
Sara nickte. »Ja«, lächelte sie, um sich selber Mut zu machen. »Und dann gehe ich nach Siegburg, meine Eltern und Jochi suchen. Irgendwo müssen sie ja schließlich sein, oder?«
Am nächsten Tag brach sie noch vor der Morgendämmerung auf, damit niemand sie sah. Einen Gang wollte sie an diesem Tag machen, der ihr schwer werden würde. Weil die Tore des Judenviertels noch geschlossen waren, schlüpfte sie durch einen versteckten Mauerspalt hinter dem Haus des Vorbeters, ein heimlicher Zugang, den nur die Juden kannten. Ihr Weg führte sie zum Bonner Tor, das gerade geöffnet wurde. Zum Glück traf sie dort einen Kramhändler, der sie ein Stück auf seinem Karren mitnahm, bis zum Judenbüchel, dem jüdischen Friedhof. Weißer Nebel trieb vom Fluss her und schmiegte sich wie ein feines Tuch in die Senke vor dem Hügel, den man der Kölner Gemeinde als Begräbnisplatz zugewiesen hatte. Sara nahm den schmalen Trampelpfad durchs Gras, den sie so gut kannte, vorbei an dem Tahara-Häuschen, in dem die Toten gewaschen und vorbereitet wurden, und dann stand sie wie früher vor Salos Grab. Es war ein einfacher grauer Granitblock, auf dem in hebräischer Schrift sein Name unter einem vielzackigen Stern eingemeißelt stand. Eine ganze Weile verharrte sie davor und betete still. Ihr Herz war schwer, aber sie fühlte auch, dass die Trauer in ihr nicht mehr stach und brannte, sondern einem wehmütigen Frieden gewichen war. Ach Salo, dachte sie, wärst du doch bei mir. Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, seine schlanke, hochgewachsene Gestalt, aber zum ersten Mal, ausgerechnet hier, an diesem Ort, gelang es ihr nicht. Seine Züge verschwammen, blieben undeutlich. Tränen liefen ihr über die Wangen. So nimmst du Abschied von mir, Liebster, weinte sie, und ich von dir. Du willst mir sagen, dass es Zeit ist, dich loszulassen. Der Wind säuselte in den Ästen der alten Linde am Tor, als gäbe er ihr Antwort.
Sara wischte die Tränen fort. Dann bückte sie sich, hob ein Steinchen auf und legte es zu den anderen kleinen Kieseln auf den Grabstein, als Zeichen ihrer Liebe und ihres Gedenkens. »Leb wohl, Salo«, sagte sie laut. Als die Sonne schon hoch am Himmel stand, verließ sie die Totenstätte und kehrte in die Mauern der Stadt zurück.
Nachdem sie den Nachmittag über Vorräte für ihre weitere Reise eingekauft hatte, blieb sie noch eine Nacht in einer Wirtschaft bei Sankt Pantaleon, einer der altehrwürdigen Kölner Kirchen. Ins Judenviertel wagte sie sich aus Angst vor Chajim nicht zurück. Am nächsten Morgen in aller Frühe stand sie mit schwerem Herzen auf. Jetzt, da ihre Familie nicht mehr hier lebte, würde sie Köln für immer den Rücken kehren. Sie packte ihr Bündel und beeilte sich, das Severinstor zu erreichen. In den ersten Morgenstunden gingen die meisten Fuhrwerke aus der Stadt ab, und sie hoffte, dass eines sie ein Stück würde mitnehmen können. Da plötzlich hörte sie hinter sich Lärm und Gezeter. Sie beobachtete, wie ein Kind vom Hauptportal der Pantaleons-Basilika aus wegrannte, ein kleiner Junge, barfuß, dürr und schmächtig. Hinter ihm kam ein Priester gelaufen, die Faust drohend erhoben. »Haltet ihn!«, schrie er mit höchster Fistelstimme, und etliche Leute nahmen mit ihm die Verfolgung auf. Der Bub flitzte auf Sara zu. Noch bevor sie irgendetwas tun konnte, war er auch schon an ihr vorbeigeschossen und blitzschnell in eine Seitengasse eingebogen. Sara sah ihm nach; er kletterte behände auf einen Stapel
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