Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Hütten, in denen Mensch und Tier zusammen hausten. Trübsinnig konnte man werden bei solch einem Wetter, dachte sie. Während die Tropfen auf ihr Zeltdach trommelten, fragte sie sich eines Nachts, welches Datum wohl inzwischen sein mochte und stellte mit Erstaunen fest, dass sie den zeitlichen Bezug zum Jahreslauf völlig verloren hatte. Bisher hatte sie von einem Schabbat zum anderen und von einem jüdischen Fest oder Feiertag zum nächsten gelebt, immer im Ablauf der Monate: Tischri, Cheschwan, Kislew, Tewet, Schewar, Adar, Nisan, Ijar, Siwan, Tamus, Av, Elul. Aber jetzt, seit sie mit den Christen umherzog, hatte sie tatsächlich die Zeit verloren. War nun schon Laubhüttenfest gewesen, oder kam es noch? Welchen Monat schrieb man, wenn die Christen Oktober hatten? Das Jahr war ihr noch bewusst: Nach der christlichen Zeitrechnung, die mit der Geburt Jesu begann, schrieb man 1414 – das entsprach dem Jahr 5175 nach jüdischer Rechnung, die ab der Erschaffung der Welt zählte. Sara wurde plötzlich schmerzhaft klar, wie sehr sie die stillen Rituale des Schabbat vermisste, das Innehalten und Durchatmen, das mit diesem Ruhetag verbunden war. Der Sonntag schien ihr nicht dasselbe zu sein – zwar arbeiteten auch die Christen an diesem Tag nicht, aber die Regeln schienen nicht so streng wie bei den Juden – oder sie wurden weniger beachtet. Sara kam sich auf einmal ganz verloren vor. Ihr war, als lebte sie zwischen den Welten, als habe sie die Haftung verloren, wie ein Sandkorn, das im Regen davonschwimmt …
Endlich erreichten sie St. Goar, und die Sonne brach durch die Wolken. Wie zur Begrüßung wölbte sich ein bunter Regenbogen über der Stadt und tippte mit seinem Ende auf die darüber thronende Burg Rheinfels. Durch die ganze Truppe ging ein Aufatmen. Man kampierte noch vor der Stadt, um alles wieder zu trocknen. Das erste Mal seit fast zwei Wochen konnten die Fahrenden wieder unbeschwert im Freien sitzen und sich das Abendessen schmecken lassen. Ein Fischer hatte Janka einen großen Korb Salme unglaublich billig verkauft – der Flussfisch wurde hier in solchen Mengen gefangen, dass man seiner gänzlich überdrüssig war. Die St. Goarer Lehrlinge bedingten sich sogar in ihren Verträgen aus, nicht jeden Tag Salm essen zu müssen. Für Sara und die anderen dagegen war es ein Festmahl. Sogar der Herzog von Schnuff, der sich sonst für Fisch zu fein war, vertilgte zwei der silbrigen Schwimmer mitsamt Kopf und Gräten.
Eine größere Jagdgesellschaft weilte gerade auf Rheinfels, und Ezzo machte sich sofort auf den Weg, um die Fahrenden anzukündigen. Die vom Adel waren hocherfreut und luden gleich für den nächsten Tag auf die Burg.
Rheinfels war eine großartige Festung und galt weithin als uneinnehmbar. Ein Jahr und vierzehn Wochen hatte die Burg der Belagerung durch den Rheinischen Städtebund getrotzt; damals hatten neuntausend Angreifer und fünfzig Schiffe ihr nichts anhaben können. Der Bergfried mit seinem Aufsatz, den man wegen seiner Form Butterfass nannte, war unglaubliche hundertzwanzig Fuß hoch. Und immer noch wurde auf der Burg überall gebaut, die Wehren verstärkt und die Wohnbauten erweitert.
Als die Spielleute in der Festung eintrafen, lagen an die fünfzig Stück Wildpret im Hof vor der Küche, die Beute des Tages. Köche und Metzler waren damit beschäftigt, die Tiere zu häuten und zu zerlegen, Küchenmägde rannten schwitzend mit Wasserzubern hin und her, ein riesiger Kessel hing über offenem Feuer, in den man gleich den Tran zum Auslassen warf. Überall rannen Bäche von Blut, an denen die Hofhunde gierig leckten.
Die Fahrenden bahnten sich ihren Weg zum Palas und gaben im großen Saal ihre Kunststücke zum Besten. Anschließend speisten die vom Adel; Ciaran und die Zigeuner spielten zum Essen auf, und auch die Fahrenden bekamen ihren Anteil am Hirsch- und Wildschweinbraten. Nach dem Abendbankett wünschten sich die Herrschaften ein Theaterstück, und Pirlo wählte eine bekannte Posse des Neithart von Reuental. Die Darbietung endete in einer wilden Schlägerei zwischen einem Ritter – gespielt von Ezzo – und drei tölpelhaften Bauern.
»Holla«, schrie nach dem Schlussapplaus einer der adeligen Jäger – es war der junge Edelfreie von Stein, ein aufbrausender, rotnasiger Hitzkopf. Er stand schwankend auf und hielt Ezzo am Arm fest. »Mit ein paar blöden Bauernärschen kannst du ja leicht fertig werden, Mann! Drei von uns dagegen hätten dich schon das Fürchten
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