Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
dieser Vorfall endgültig aus dem Gleichgewicht; ich brach mitten auf der Straße in Tränen aus, die Ratte zu meinen Füßen, und fühlte mich hilflos wie ein kleines Kind. Es war Jakit, meine Nachbarin, die sich schließlich des Häufleins Elend annahm, das ich war. Sie ging mit mir zur Mikwe, zog mich aus, sorgte dafür, dass ich ganz untertauchte und brachte mich danach heim. In dieser Nacht beschloss ich, meine Liebe zu Ezzo zu begraben. So konnte es nicht weitergehen.
Und dann kam der Tag, der so vieles veränderte.
Neuerdings grassierte ein Sommerhusten in der Stadt, der vor allem Kinder und Alte befiel. Ein Brustbalsam nach einer alten Rezeptur aus Onkel Jehudas Buch tat gute Dienste, und ich braute beinahe jeden Morgen einen Kessel davon. Weil am nächsten Tag Schabbat war und ich nicht arbeiten durfte, schürte ich ein besonders großes Feuer in meiner Küche, um gleich die doppelte Menge herzustellen. Der Kessel mit Kräutern, Honig, Leinöl und Gänsefett hing am obersten Zahn, damit die Flüssigkeit langsam und schonend einkochte; die Ingredienzien mussten sich durch die Hitze erst gut miteinander vermischten, bevor der Balsam beim Erkalten eindickte. Nur eine Zutat fehlte noch – es war kein Schneckenschleim mehr da. Weil Jochi keine Lust hatte, zum Apotheker zu gehen – manchmal war sie faul wie ein alter Hund –, entschloss ich mich wohl oder übel, selber hinzulaufen. »Aber du musst aufs Feuer aufpassen und immer beim Topf bleiben und rühren und rühren und rühren«, schärfte ich ihr ein. Sie konnte das recht gut; in letzter Zeit hatte sie mir oft geholfen.
Mit meinem Tiegelchen Schneckenschleim kam ich vom Apotheker heim. Es versprach ein schöner, heißer Julitag zu werden, und mir war jetzt schon so warm, dass ich die fiebrigen Kranken bedauerte, zu denen ich heute gehen würde. Ich öffnete die Tür, legte mein Kopftuch mit den Judenstreifen ab und rief: »Bin wieder da!«
Keine Antwort.
»Jochi?« Ich betrat die Wohnküche. Als Erstes sah ich, dass der Rührlöffel auf dem Boden lag und die Flammen unter dem Kessel mit der blubbernden Fettmischung viel zu hoch loderten. Sie hatte das Feuer alleingelassen. Na warte, dachte ich.
Und dann sah ich sie. In der Ecke neben der Hintertür zum Garten hockte sie ganz zusammengekauert auf dem Fußboden, die Arme fest um den Oberkörper geschlungen. Sie brummte. Ihre Augen waren weit aufgerissen und voller Schrecken. Ihrem Blick folgend drehte ich mich um.
Es war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich war unfähig, mich zu rühren, unfähig, zu denken. Eisige Kälte machte sich in mir breit, die mich lähmte. Und dann kam die Angst, sie sprang mich an wie ein Tier, klammerte sich an mich mit gierigen Fingern, drückte mir die Luft ab und machte mich stumm. Da stand der Mann, der seit so vielen Jahren mein Albtraum war, lächelnd, als sei er ein willkommener Gast. Da stand Chajim!
»Siehe, meine Freundin, du bist schön. Schön bist du … « Er sprach die uralten Worte König Salomos aus dem Hohen Lied; seine Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich konnte immer noch nichts sagen. Sein Haar war schütter geworden, sein Bart hatte graue Strähnen, und er kam mir kleiner vor als in meiner Erinnerung. Aber unter seinem leichten, braunwollenen Sommerumhang zeichnete sich immer noch ein muskulöser Körper ab, breite Schultern und kräftige Oberarme. Und seine Augen blickten immer noch kalt und grausam, so wie früher.
»Hast geglaubt, ich finde dich nie, hm?«, sagte er und trat einen Schritt näher.
Ich wich zurück. »Was willst du, Chajim?«
Er blieb stehen und zuckte die Schultern. »Nur das, was mir gehört.« Wie selbstverständlich trat er an den Tisch, auf dem ein Krüglein Apfelmost stand, und trank einen Schluck. »Ich hab dich gesucht, Sara«, erzählte er im Plauderton. »viele Jahre lang. Als sich deine Familie hier niederließ, dachte ich mir schon, dass du früher oder später hier auftauchen würdest. Da musste ich nur noch ab und zu vorbeischauen. Tja, und hier bin ich!« Er breitete die Arme aus. »Hübsch hast du’s hier.«
Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Chajim, sei vernünftig«, beschwor ich ihn. »Lass die Vergangenheit ruhen. Was nützt dir eine Frau, die dich nicht liebt?«
Er fuhr beiläufig mit dem Finger über das Tellerregal an der Wand, als wolle er prüfen, ob es staubig sei. »Wer spricht denn von Liebe?«, sagte er.
Ich versuchte vergeblich, das Zittern meiner
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