Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
ein scharfer Kanter war gefährlich genug. Irgendwann fielen die Pferde in erschöpften Schritt, der Boden wurde zu tief und zu schlammig. Der Anführer, ein älterer Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, winkte einen seiner Begleiter zu sich.
»Ihr wisst Bescheid, Lovelace?«
»Aye, Mylord«, nickte der massige Kahlkopf. Das Wasser lief in kleinen Bächlein vom Rand der Kapuze über seine Wangen.
»Keiner der Ketzer darf überleben, hört Ihr?«
»Aye, Mylord.«
»Aber vorher müssen wir herausfinden, wo die Handschrift versteckt ist. Habt Ihr Eure Leute im Griff?«
Der Mann knurrte unwillig. »Natürlich. Ihr könnt Euch auf die Männer verlassen, Herr. Sie gehorchen mir aufs Wort. Außerdem – der Erzbischof bezahlt sie gut.«
Der Anführer atmete einmal tief durch. Ja, dachte er, Thomas Arundel, du liegst jetzt gerade in deinem Bett und schläfst den Schlaf der Gerechten. Und mich lässt du die Drecksarbeit machen. Meinen besten Freund verraten. Gott gebe, dass unsere Sache gerecht ist. Und dass ein paar Fetzen Papier dies alles wert sind …
Als könne der gedungene Mörder Gedanken lesen, fragte er: »Was ist das für eine Handschrift, die der Erzbischof so unbedingt haben will?«
Der Anführer fuhr herum. »Das wollt Ihr gar nicht wissen, Mann, wenn Euch Euer Leben lieb ist«, schnappte er. »Los, beeilen wir uns lieber. In ein paar Stunden wird es hell.«
Der Morgen graute über Tiltenham Manor. Es hatte aufgehört, zu regnen, Dampf stieg aus dem feuchten Laub im Garten. Sir Geoffrey Granville schlug das Federbett zur Seite und stand auf. Ein kurzer Blick sagte ihm, dass seine Frau noch schlief; ihr Atem ging ruhig und regelmäßig. Er hingegen hatte kein Auge zugetan. An John Wyclif hatte er gedacht, seinen Freund und Lehrmeister zu Oxford. Gebetet hatte er, inbrünstig und doch ohne Hoffnung. Er wusste, es würde bald vorbei sein. Sie waren ihm schon zu lange auf der Spur, es war immer nur eine Frage der Zeit gewesen. Hatte er richtig gehandelt? Damals, als er alles aufgegeben hatte, um Wyclif zu folgen? Oh, wie richtig, wie einfach und überzeugend hatte geklungen, was der große Religionsgelehrte gepredigt hatte: Die Kirche muss arm sein wie Jesus! Allein durch Gottes Gnade, nicht durch einen verderbten Klerus, ist Erlösung möglich! Das Wort Gottes muss allen zugänglich gemacht werden, dem kleinsten Mann, in seiner Muttersprache! Wie viel Wucht in dieser Lehre lag, Wucht, die Kirche zu zertrümmern, das war ihm erst jetzt wirklich klar, sieben Jahre nach Wyclifs Tod! Und dass sich die Kirche gegen die neue Lehre wehren würde mit allen Mitteln.
Granville zog seinen wollenen Morgenmantel an und setzte sich wieder aufs Bett. Seine junge Frau regte sich schlaftrunken und fasste nach seiner Hand. Elizabeth, dachte er, ich hätte dich nicht mit hineinziehen dürfen. Doch du hast bald mehr als ich an die neue Lehre geglaubt, mit mehr Inbrunst und mehr Hingabe. Kaum hatten die Verfolgungen angefangen, warst du eine von Wyclifs brennendsten Verfechterinnen. Ich weiß gar nicht, wie viele Versionen der englischen Bibel, dieser mühsamen Übersetzung aus dem Lateinischen, durch deine Hilfe angefertigt wurden. Es müssen an die zwanzig gewesen sein. Als unsere Freunde in den Untergrund gezwungen wurden, hast du sie heimlich beherbergt, hast Versammlungen einberufen, hier in diesem Haus. Alle waren sie hier: Sir Thomas Latimer, Sir John Trussel, Sir Lewis Clifford, Sir John Peachey, Sir William Nevil, sogar Sir John Montagu, der Earl of Salisbury. Lollardenritter, so nannte man uns alle inzwischen. Ach Gott, wir wussten immer, dass wir mit dem Feuer spielten. Doch zu Anfang waren wir wenigstens nicht an Leib und Leben bedroht. Das hat sich längst geändert.
Gedankenverloren streichelte Granville die Hand seiner schlafenden Frau. Sie war stärker als er. Noch gestern Abend, als die böse Nachricht sie erreichte, hatte Elizabeth zu ihm gesagt: »Wenn sie kommen, ist es der Wille Gottes. Aber es ist auch sein Wille, das Vermächtnis unseres Lehrers zu bewahren. Wir werden nicht reden, Geoffrey, und wenn es unseren Tod bedeuten sollte.«
Niemand wusste von dem Geheimnis. Die Gefahr, das jemand unter der Folter das Versteck preisgeben würde, war zu groß. »Übergebt mein Vermächtnis demjenigen zu treuen Händen, der mir nachfolgt in der wahren Lehre«, hatte Wyclif zu ihnen gesagt. Das war kurz vor seinem Tod gewesen, als er gespürt hatte, dass das Leben aus ihm wich. »Einer wird kommen,
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