Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
Becher mit Wasser, in das Onkel Jehuda eine süßlich riechende Flüssigkeit geträufelt hatte. »Das macht Euch ruhig, Herr, und hilft gegen den Schmerz«, versicherte er in beruhigendem Tonfall.
»Es wird doch nicht zu sehr wehetun?«, fragte mich der Patient mit einem leichten Zittern in der Stimme, als er mir den Becher zurückgab.
Was sollte ich sagen? Ich hatte doch keine Ahnung, schließlich war dies mein erster Starstich! »Gewiss nicht«, lächelte ich und hoffte, dass es keine Lüge war. »Ihr seid in den besten Händen, mein guter Herr.« Aus dem Augenwinkel sah ich, dass mir mein Onkel zunickte.
Nun ging es ans Werk. Onkel Jehuda schob das Lederpolster zurecht und band den Kopf des Mannes mit einem breiten Stoffband an die Rückenlehne. »Könnt Ihr das große schwarze Kreuz vor Euch an der Wand erkennen?«, fragte er. Der Patient bejahte. »Ich bitte Euch nun darum«, sagte Onkel Jehuda mit Nachdruck, »dieses Kreuz genau im Blick zu behalten.« Dann wandte er sich an mich. »Nimm seine Hände«, befahl er, »und halte sie gut fest.«
Mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand spreizte er die Lider des linken Auges auf. Die lange Nadel blitzte im Licht der Morgensonne. Er zog sie kurz durch den Mund, damit sie besser glitt, dann stach er sicher und entschlossen seitlich neben der Iris in das Weiße des Augapfels. Der Patient zuckte zusammen, schrie aber nicht. Ich hielt seine Hände so fest es ging, damit er nicht zum Auge greifen konnte, während mein Onkel die Nadel tiefer und vorwärts trieb, bis ihre Spitze mitten in der Pupille sichtbar wurde. Jetzt hatte er die getrübte Linse erreicht und schob das graumilchige Ding langsam nach unten. Die Scheibe glitt tiefer und tiefer, ging schließlich im Weißen unter wie die Sonne am Horizont. Mir schien es wie ein Wunder: Plötzlich waren da eine blaustrahlende Iris und das schwarzglänzende Loch der Pupille.
Onkel Jehuda hielt die Linse auf dem Boden des Augapfels fest und zählte dabei leise bis zehn, dann zog er die Nadel heraus und ließ die Lider des Patienten zufallen. »Fertig«, sagte er zufrieden.
Der Mann atmete erleichtert aus und entspannte sich. Er blinzelte, schaute, blinzelte, schaute erneut. »Bei allen Heiligen«, rief er überrascht aus, »ich kann wieder sehen! Das ist ja wie Zauberei!«
Onkel Jehuda winkte ab. »Die getrübte Linse hat Licht und Farben nicht mehr in Euer Auge eingelassen, Herr. Jetzt ist sie aus dem Weg, und Ihr könnt wieder vieles erkennen. Natürlich nicht mehr so scharf wie früher, aber es wird reichen. Ich habe auch schon gehört, dass man in Fällen wie dem Euren einen Sehstein oder eine Brille anfertigen lassen kann, um die Sehkraft zu verbessern. Sicher bin ich mir da nicht, aber Ihr könnt Euch vielleicht später einmal zu Nürnberg erkundigen, dort soll es solch einen Brillenmacher geben. Auf jeden Fall solltet Ihr in den nächsten Tagen ruhen und das Auge möglichst wenig bewegen, damit die Linse nicht wieder aufsteigt. Sobald wir sicher sein können, dass alles gut verlaufen ist, stechen wir den Star im rechten Auge.«
Auf Geheiß meines Onkels brachte ich ein rundes, gewölbtes Stück Leder, das ich vor das geheilte Auge stülpte, während er die Leinenbinde um den Kopf wickelte. Dann führte ich den frisch Operierten nach draußen und übergab ihn dem jungen Mann, der ihn hergebracht hatte.
Ich war überwältigt, begeistert, geradezu berauscht von dem, was ich eben gesehen hatte! Was war das für eine großartige Kunst, die mein Onkel da ausübte! Meine Ehrfurcht vor seinen Fähigkeiten war grenzenlos. Da kam ein Mensch, der mit Blindheit geschlagen war, und ging als Sehender wieder heim! Ich konnte es nicht fassen!
Aber ich hatte keine Zeit, länger über dieses unglaubliche Erlebnis nachzudenken. Am Vormittag kamen noch viele Leute, die Onkel Jehudas Hilfe in Anspruch nahmen. Er spaltete einen Furunkel, verabreichte ein Mittel gegen Kopfschmerzen, massierte dem kleinen Abi Löw so lange den Bauch, bis schmerzhafte Winde abgingen. Er schickte eine Frau zum Apotheker, um dort ein Mittel gegen Kopfläuse zu kaufen, das er ihr aufgeschrieben hatte. Außerdem brachte man ihm etliche Gläser mit Urin zur Harnschau; er besah sich die Flüssigkeit, roch und schmeckte und erkannte daran die verschiedenen Krankheiten. Anschließend half ich ihm dabei, die rechte Medizin zu mischen.
Nach einer kurzen Mittagspause, in der wir ein kaltes Mahl aus Brot, Käse und sauren Rüben verspeisten, begleitete
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