Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
mir der Preis meiner Flucht bewusster: Ich war meinem Mann entkommen, aber dafür hatte ich meine Familie aufgegeben. Solange Chajim lebte, konnte ich nie mehr zurück.
Dass ich in München in Onkel Jehuda und Jettl eine neue Familie fand, war ein großes Glück. Und wenn ich heute zurückblicke, waren die Jahre dort vielleicht die wichtigsten meines Lebens. Immer noch sehe ich meinen Onkel bei flackerndem Kerzenlicht in seinem verschlissenen Armsessel sitzen, die gebauschte Arztkappe auf dem spärlichen grauen Haarschopf und die langen, feinfühligen Finger im Schoß verschränkt. Und ich höre ihn mit dunkler Stimme erzählen.
Oft jammerte er in gespielter Verzweiflung darüber, dass ich so viel wissen wollte, ihm unaufhörlich Fragen stellte. Dann antwortete ich jedes Mal mit denselben Zeilen aus der Thora: »Erwäge die Jahre vergangener Geschlechter, frage deinen Vater, dass er dir künde, deine Alten, dass sie dir ansagen.« Und er raufte sich die Haare und gab sich geschlagen.
Er erzählte mir die Geschichte der Münchner Gemeinde und an ihrem Beispiel die aller Juden im Reich. Bis zum ersten Kreuzzug, bei dem sich christliche Ritter anschickten, das heilige Jerusalem den Feinden der Christenheit zu entreißen, hatten alle sorglos und in Frieden gelebt. Dass dieses Jerusalem auch für die Muslime und die Juden ein heiliger Ort war, kümmerte dabei niemanden. Doch dann fiel den Kreuzrittern ein, dass man ja gar nicht erst übers Meer zu fahren brauchte, um gegen Andersgläubige zu kämpfen – schließlich lebten ja die Juden, die den Sohn ihres Gottes getötet hatten, mitten unter ihnen! Es kam zu furchtbaren Abschlachtungen, blutigen Morden, unfassbarem Leid. Viele Judengemeinden wurden ausgelöscht, Männer, Frauen und Kinder; und es dauerte lange, bis sich die Judenschaft wieder erholt hatte.
Nach diesen Metzeleien herrschte meistens Frieden, bis ein schrecklicher Feind die Menschheit in Europa heimsuchte: die Pest. Und wem sonst als den Juden sollte man die Schuld am Ausbruch der Seuche in die Schuhe schieben? So wurden auch in der bayerischen Herzogsstadt München die Juden allesamt grausam umgebracht, als im Jahr 1349 die Furcht vor dem großen Sterben umging. Man bezichtigte die Hebräer, heimtückisch die Brunnen zu vergiften und so den Christen die Pest zu bringen. Deshalb musste man sie vernichten, noch bevor sie die Krankheit in der Stadt verbreiten konnten. Onkel Jehuda wusste auch eine Erklärung dafür, warum man den Juden ausgerechnet den Vorwurf der Brunnenvergiftung machte: Den Christen schien es schon immer verdächtig, dass das Wasser für uns eine so große Bedeutung hat. All unsere Reinigungsbräuche, die ihnen fremd und unheimlich sind, haben mit Wasser zu tun. Während sie ihre Nachtgeschirre neben ihren Brunnen ausschütten, die Abwässer der Gerbereien in ihre Flüsse leiten und das Vieh in ihr Trinkwasser hineinsabbern lassen, bewachen wir unsere Brunnen Tag und Nacht, auf dass nichts verunreinigt werde. Das ist schließlich ganz verständlich – einem Volk, das einst aus der Wüste kam, ist Wasser ungleich kostbarer als Menschen, die es im Überfluss besitzen. Doch daran dachten die Christen nicht.
Wie in den anderen Gemeinden des Reiches hatte es damals in München nur wenige Überlebende gegeben. Aber weil der Herzog die Juden als Geldgeber brauchte, erlaubte er ihre Wiederansiedlung. Und tatsächlich kamen sie zurück, bauten ihre Häuser wieder auf und begannen ein neues Leben. Was hätten sie auch tun sollen? Woanders war es nicht sicherer oder besser. So klagten zwar die Weiber, wie es geschrieben stand: »Trauernd werfe ich meinen Schmuck fort und schere kahl mein Haupt wegen des berühmten München, der fröhlichen Stadt, welche ein Raub der Flammen, des Hohns und der Plünderung ward, so dass keiner übrig blieb in Jakobs Zelten, sondern alle zur Schlachtbank geschleppt wurden.« Aber sie ließen sich wieder hier nieder.
Das Zusammenleben mit den Christen wurde nie mehr ein friedliches Miteinander. Die Münchner schimpften das Volk Abrahams Hurenjuden und schürten an Ostern Judasfeuer, in denen sie den »Verräter« Judas als Puppe verbrannten, stellvertretend für die Stadtjudenschaft. Manchmal jagten sie in den sogenannten Rumpelmetten einen »Judas« durch die Stadt. Es gab viele Möglichkeiten, die Feindschaft zu den Hebräern öffentlich zu zeigen.
Überhaupt wusste Onkel Jehuda alles über die Christen. Schließlich war er eine Zeitlang selbst einer von ihnen
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