Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
schalten und walten konnte, wie es ihr beliebte – eines durfte sie nicht: Ihrem Onkel bei den Kranken helfen. Jehuda hatte einen Raum im Erdgeschoss als Behandlungsstube hergerichtet, in die er seine Patienten bat. Wenn jemand seinen Rat suchte und an die vordere Pforte klopfte, musste Sara ihn zum Krankenraum führen, dann holte Jehuda ihn herein und schloss die Tür vor ihrer Nase. Brauchte er Hilfe, dann rief er nach Jettl. Nur beim Saubermachen in Jehudas Stube durfte sie helfen. Dann wischte sie den Steinboden, öffnete die Fenster, um üble Gerüche hinauszulassen, säuberte die hölzerne Krankenliege und den Behandlungsstuhl. Sie sammelte blutige Tücher und wusch sie im kalten Wasser, spülte merkwürdig aussehende Instrumente: Da waren kleine scharfe Messerchen, Zangen und Trepane, spitze Nadeln und Sonden, längliche Spatel. Auch kleine Specula, Klistiere aus Tierblasen, Schnäpper zum Aderlass gehörten zur Arbeitsausstattung ihres Onkels, dazu Seidenfäden, dünne Hanfseile, Rosshaare und Tiersehnen. Sara hatte keine Ahnung, wozu das eine oder andere gebraucht wurde. Manchmal hörte sie Patienten stöhnen oder auch laut aufschreien, doch dann kamen sie meistens blass, aber erleichtert wieder aus Jehudas Zimmer. Für Sara war das, was Jehuda mit ihnen tat, ein großes, faszinierendes Geheimnis, und ihre Neugier, es zu ergründen, wurde mit jedem Tag stärker. Aber sie respektierte den Wunsch ihres bärbeißigen Onkels, nicht gestört zu werden. Überhaupt versuchte sie, ihn möglichst nicht zu behelligen und ihm das Gefühl zu geben, sie sei eigentlich gar nicht da. Auf Zehenspitzen ging sie an seiner Arztstube vorbei, verschwand, sobald er den Kopf durch den Türspalt steckte. Jettl sagte: »Gut so! Lass ihn nur in Ruhe, du wirst sehen, er gewöhnt sich noch an dich.«
Und Jehuda gewöhnte sich schneller an seine Nichte, als er geglaubt hatte. Eines Tages stellte er fest, dass er sich schon mittags auf den Abend freute, auf das gemeinsame Essen und die kurzweiligen Gespräche mit ihr. Verwundert fand er, dass das Zusammenleben mit Jettl zwar angenehm, aber doch mit der Zeit recht eintönig geworden war. Nun ertappte er sich dabei, die Abwechslung zu genießen, die Sara in sein Leben brachte. Ihre unermüdlichen Fragen, die Unschuld ihrer Jugend. Dieses Mädchen hatte eine geradezu unerschöpfliche Wissbegier, und das gefiel ihm ausgesprochen gut. Onkel Jehuda, warum dürfen die Christen keinen Zins nehmen? Wie kommt es, dass sie uns so hassen, obwohl die erste Hälfte ihrer Bibel und die Thora doch ein und dasselbe sind? Wie kommt es, dass eine Religion geringer geachtet wird als die andere? Wer sagt, dass die einen recht und die anderen unrecht haben? Er genoss es, ihr Dinge zu erklären, die Weisheit seines Alters über ihr auszuschütten wie Wasser aus einem immer vollen Krug. Es war, als hätte er plötzlich eine Tochter bekommen, und das machte ihn froh.
Als der Winter vergangen war, setzte sich Jettl eines Tages zu ihm. »Weißt du, Jehuda«, sagte sie mit undurchsichtiger Miene. »Du hattest schon recht. Wir zwei alten Leute sind doch kein Umgang für eine junge Frau. Und jetzt ist der Frühling gekommen. Wäre es nicht Zeit, dass wir Sara wegschickten? Meine Schwester Lea im Haus zum Rechen bräuchte eine neue Dienstmagd. Da wären auch Kinder und eine große Familie. Und du hättest wieder deine Ruhe.«
Jehuda trommelte mit den Fingern auf die hölzerne Tischplatte. Der unerwartete Vorschlag hatte ihm tatsächlich kurz die Sprache verschlagen. Nach einer Weile erhob er sich mit einem Ruck und brummte mit finsterer Miene: »Ich werde doch nicht meine eigene Verwandtschaft aus dem Haus weisen.«
Jettl schob schmollend die Unterlippe vor und tat so, als sei sie ein bisschen beleidigt. »Ja, wenn das so ist«, murmelte sie und stand ebenfalls auf. Dann drehte sie sich um und watschelte breitbeinig zurück in die Küche. Ein zufriedenes Grinsen umspielte ihre Lippen.
Sara
Ich kann gar nicht beschreiben, wie glücklich ich war, als ich endlich bei Onkel Jehuda zu München Aufnahme fand. Über drei Monate lang war ich unterwegs gewesen. Ich hatte die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt, weil ich fürchtete, wenn ich einen Treidelkahn rheinaufwärts nahm oder mit einem Fuhrwerk mitfuhr, hätte Chajim meine Spur verfolgen können. So machte ich den Weg alleine, hielt mich von Menschen fern, übernachtete heimlich in Scheunen und Ställen. Mit jedem Schritt, der mich weg von Köln führte, wurde
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