Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
ungewöhnlich frostiger Wintertag. Kein Lüftchen regte sich, und die Sonne zog ihren Bogen als gleißend helle Kugel über einen eisblauen Himmel. Drei Männer ritten in die Stadt an der Themse ein, man mochte sie für Landjunker halten in ihren feinen Kleidern, die zwar nicht der neuesten Mode entsprachen, aber doch teuer und elegant aussahen. Gemächlich lenkten sie ihre Pferde im Schritt durch das Getümmel der Londoner Gassen, wichen Karren, Kindern und dem Inhalt von Nachttöpfen aus. Ihr Weg führte offensichtlich zum Fluss hinunter, dorthin, wo die London Bridge die trägen graubraunen Fluten überspannte.
»He, Ciaran, was sagt das irische Landei zur schönsten, lautesten und schmutzigsten Stadt des englischen Imperiums?« Nur Connla nannte Ciaran noch bei seinem alten Namen, für alle anderen war er längst Henry Granville.
Ciaran war die ganze Zeit über stumm vor Staunen durch die Stadt geritten, vorbei an den dicht gedrängt stehenden Fachwerkhäusern mit ihren vorkragenden oberen Stockwerken, die kaum Sonne in die engen Gassen ließen. Er hatte die unglaubliche Mischung aus Herdrauch, Essensgerüchen, Abfallgestank, Schweiß, Kot und Fisch geschnuppert, war versucht gewesen, sich die Ohren zuzuhalten vor dem Geschrei der Leute, dem Lärm der Handwerker, dem Gegacker, Gemecker und Gegrunze der frei herumlaufenden Tiere. Hunderttausend Menschen, so hatte man ihm erzählt, lebten in diesem Ungeheuer London, eine kaum vorstellbare Zahl. Und sie lebten nicht nur in einfachen Gebäuden aus Holz, Weidengeflecht und Lehm, sondern es gab auch imposante Steinhäuser mit hohen Giebeln, kleine Stadtschlösschen, ummauerte Adelssitze. Und es gab Kirchen, Brücken, den mächtigen Tower und den Palast des Königs, wo Henry IV. und sein Hofstaat in größtem Luxus residierten. Ciaran war überwältigt; nie hatte er Derartiges gesehen.
»Arrah, wie soll sich hier je einer zurechtfinden?«, rief er über die Schulter zu Connla zurück. »Die Stadt muss riesig sein!«
»Du wirst dich dran gewöhnen«, meinte sein Vetter Will, der voranritt. »Und«, fügte er leiser hinzu, »in dieser Masse an Menschen fällt einer mehr oder weniger nicht weiter auf. Man wird dich hier nicht entdecken.«
Ciaran nickte. Ein halbes Jahr war vergangen, seit er sein Leben als Mönch hinter sich gelassen hatte. Im Sommer des vorigen Jahres war er in Dublin an Bord eines kleinen Seglers gegangen, der ihn übers Meer gebracht hatte. Dort hatte ihn sein Weg zunächst nach Kent geführt, zu Sir John Oldcastle, Lord Cobham, einem weitläufigen Verwandten seiner toten Mutter. Oldcastle und seine hübsche Frau hatten ihn wie einen verlorenen Sohn willkommen geheißen, ihn mit Freuden aufgenommen und ausgestattet, wie es einem vornehmen jungen Herren anstand. Die ganze Zeit über war er bei seiner neugefundenen Familie auf Cowling Castle geblieben, ohne sich wirklich an das sorglose Leben im Überfluss gewöhnen zu können. Seine Vorurteile gegen die Anhänger Wyclifs hatte er bald abgelegt – spätestens, als ihm Connla wortlos eine Übersetzung des Neuen Testamtens in die Hand gedrückt hatte. Die christliche Botschaft nicht auf Latein, sondern in einer Sprache zu lesen, die auch der einfachste Mensch verstand, hatte Ciaran tief berührt. Noch viel mehr hatten ihn die lollardischen Messen beeindruckt: Keine Priester, sondern einfache Menschen standen da und sprachen von Gott, so ehrlich und beseligt, wie Ciaran selten einen Geistlichen hatte reden hören. Er begriff plötzlich, dass man den Glauben auch anders leben konnte, dass die Lollarden in vielen Dingen strenger und ernster dachten und Gott mehr liebten als der heiligmäßigste Mönch. Er las ihre Schriften und begann, Ansichten und Argumente zu verstehen, die er noch vor kurzer Zeit als ketzerisch abgetan hatte. Und dennoch – von seinen frommen Überzeugungen, zu denen ihn die irischen Mönche erzogen hatten, konnte sich Ciaran nicht lösen. Zu sehr war ihm der alte Glaube in Fleisch und Blut übergegangen, als dass er ihn hätte verleugnen können. Er war ja noch nicht einmal in der Lage, den Lebensrhythmus des Mönchs abzulegen. Immer noch teilte er seine Tage im Dreistundentakt der klösterlichen Gebetszeiten ein: die Matutin zur Morgendämmerung, die Prim in der Frühe, die Terz am Mittag, die Sext, die Non und die Complet. Sogar zu den Vigilien der Nacht wachte er immer noch auf. Er fühlte sich zerrissen, hilflos. An manchen Tagen war er der Verzweiflung nah, wusste nicht mehr,
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